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„America first“ sticht „Europe first“

Rund um das laufende Militärmanöver Defender21 stellt Joe Biden sicherheits- und militärpolitische Eckpfeiler der EU auf den Kopf.

Von Thomas Roithner

Richtig verärgert waren zahlreiche EU-Staaten, als George W. Bush 2003 den Krieg gegen den Irak lostrat. Völkerrechtswidrig noch dazu. Es müsse Schluss sein mit der bedingungslosen transatlantischen Loyalität. Als Bushs Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Europa dann noch in ein „altes“ kriegskritisches und „neues“ kriegsbefürwortendes Europa teilte, fiel das Manifest zur Wiedergeburt Europas von Jürgen Habermas und Jacques Derrida auf fruchtbaren Boden.

Eine zentrale Schlussfolgerung: die EU braucht Muskeln und darf dabei so wenig wie möglich auf andere angewiesen sein. Das Gemeinsame in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik reichte nicht, um das Wofür auch schlüssig zu erklären. Auf George W. Bush folgte Barack Obama. Der Demokrat Obama bewirkte ruckzuck ein „Kehrt Marsch“ und die EU-Staaten waren bei ihrem Rüstungsgipfel im Jahr 2013 wieder transatlantisch gepolt.

Trump befördert EU-Militärautonomie

Auf Barack Obama folgte Donald Trump. Einer der Gründe, warum die EU-Staaten auf eine sicherheitspolitische und auch rüstungsindustrielle Autonomie setzten, war der unberechenbare Rüpel im Weißen Haus. Das EU-Autonomiestreben war auch als Reduktion der Abhängigkeit von den USA zu lesen.

Die Folge: autonomes militärisches Kerneuropa, eigenes militärisches EU-Hauptquartier, EU-Rüstungsfonds, Stärkung der autonom funktionierenden EU-„battle groups“. Auch ein deutsch-französisches neues EU-Kampfflugzeugsystem und ein Kampfpanzersystem muss entstehen. Milliardenbeträge wurden trotz Corona für den EU-Finanzrahmen von 2021 – 2027 für Militär und Rüstung losgeeist.

Die USA unter Trump waren überhaupt nicht begeistert: Die EU-Staaten sollten in den USA einkaufen anstatt eigene Rüstungskonzerne zu füttern. Doch schon nach 100 Tagen US-Präsidentschaft des Demokraten Joe Biden sollen Teile der EU-Autonomie im Handumdrehen politisch Flöten gehen. Barack Obama lässt grüßen.

Militärische Mobilität der EU

Die EU wird durch außen- und sicherheitspolitische Uneinigkeit geprägt. Damit militärisch potente und politisch willige EU-Staaten den Ton vorgeben können, werden Bedenken regelkonform abgekoppelt. Bislang wurden im Rahmen dieser militärischen kerneuropäischen permanenten strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) 47 im Wesentlichen militärische und rüstungsindustrielle Projekte vorgeschlagen und befinden sich in der Umsetzung (darunter die Eurodrohne, EU-Kampfhubschrauber, Euro-Artillerie, ein Land Battlefield Missile System, ein Unterwasserinterventions-Package).

PESCO plant mit einer „regelmäßigen realen Aufstockung der Verteidigungshaushalte“. Autonomes Handeln und Intervenieren sind deutsch-französische Leitgedanken. Ein PESCO-Projekt arbeitet an der Umsetzung der militärischen Mobilität.

Die military mobility der EU wird im aktuellen EU-Finanzrahmen mit 1,5 Milliarden Euro ausgestattet. Neben den vier Freiheiten der EU – Kapital, Dienstleistungen, Waren und Personen – soll auch eine fünfte Freiheit Platz greifen: Das militärische Schengen soll helfen, dass Truppen, Militärgüter und Rüstung möglichst ohne Schranken und rasch durch die EU transportiert werden können. Dazu gilt es Straßen, Bahnlinien, Häfen, Flugplätze oder Brücken „panzerfit“ zu machen. Österreich ist an diesem kerneuopäischen Projekt beteiligt.

Militärische Mobilität im Rahmen des militärischen Kerneuropas (PESCO) sollte nach Ansicht des Rates der EU die strategische Autonomie der EU stärken. Nicht-EU-Staaten sollten „in Ausnahmefällen eingeladen werden“.

Defender21

21 der 27 EU-Staaten sind Mitglieder der NATO. USA und NATO-Staaten setzen im laufenden Militärmanöver „Defender21“ aktuell 28.000 Soldat*innen und Waffen quer durch Europa in Richtung westlicher Balkan und Schwarzes Meer in Marsch. 2000 Soldat*innen und 800 Fahrzeuge durchqueren auch das neutrale Österreich. Der Nutzen einer panzerfitten Infrastruktur ist für die Armee dabei evident.

Stärkt USA EU-Militärmobilität?

Barack Obama hat nach George W. Bush für die USA in der EU die Kohlen aus dem Feuer geholt und Bündnistreue eingemahnt. Nach Donald Trump stellt nun Joe Biden den Grundgedanken der militärischen EU-Autonomie ein Stückweit auf den Kopf. Just zu Beginn eines der größten US-Militärmanöver werden die USA, Kanada und Norwegen eingeladen, sich am EU-PESCO-Projekt der militärischen Mobilität zu beteiligen. Autonomie à la „Europe first“ schaut anders aus.

Die military mobility soll „die rasche und nahtlose Verlegung von militärischem Personal und militärischer Ausrüstung in der gesamten EU auf dem Landweg (Schiene, Straße), dem Luft- oder dem Seeweg“ ermöglichen. „Dieser Bereich“, so der Rat, „stellt in unseren transatlantischen Beziehungen eine Priorität von gemeinsamem Interesse dar.“ Dem Rat der EU geht es dabei um „Abwehrbereitschaft“ und um Militäreinsätze.

Zwei Wege für ein fragwürdiges Ziel

Military mobility wurde bislang – der Weg eins – unter dem Schirm der EU bewerkstelligt und finanziert. Weg zwei ist, die USA mit an Bord zu holen. EU-Autonomie hin oder her. Sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen für das Gegenüber sind in beiden Varianten nicht gesondert vorgesehen.

Die 27 EU-Mitglieder bilden im Verhältnis zu Russland keinen einheitlichen Akteur ab. Für die USA waren bislang Begriffe wie „Großmachtrivalität“ prägend. Das transatlantische Verhältnis wird unter Joe Biden unter dem Vorbehalt von „America first“ im Ton freundlicher, gegenüber Russland und China hingegen nicht weniger rau.

Knatsch in der Waffenkammer

Unabhängig, ob die westliche Machtdemonstration via Defender21 in Richtung Osten in transatlantischer Einigkeit vollzogen wird, so ist die geöffnete Türe der EU für die USA im Hinblick auf die militärische Mobilität ein langfristiges Vorhaben. Wenig Zeit ist verstrichen, seit die USA noch Besorgnis und Kritik an kerneuropäischen Rüstungsprojekten geäußert haben. Die US-Rüstungskonzerne befürchteten unter Donald Trump, bei EU-finanzierten Rüstungsprojekten benachteiligt zu werden. Die Kritik der US-Waffenschmieden wird sich unter Joe Biden wohl nicht ändern.

Werden Rüstungs- und Infrastrukturkonzerne dies- oder jenseits des Atlantiks die lukrativen Aufträge für die military mobility der EU bekommen und wer bezahlt? Auch weitere politische Minenfelder sind nicht geräumt: Wird das künftige EU-Kampfflugzeugsystem FCAS Atomwaffen der USA tragen und wie weit lassen französische und deutsche Rüstungskonzerne die USA in ihre Pläne schauen?

Autonomie in der Sicherheitspolitik misst nicht nur den Längenvergleich des Kanonenrohrs, sondern bedeutet auch politische Entscheidungsautonomie. Doch was tun mit US-Panzern im EU-Militärmobilitätsprojekt, wenn sich das Verhältnis zwischen Washington und Moskau verschlechtert? Was tun, wenn es Meinungsverschiedenheiten zum Übungsaufmarsch zwischen EU-Staaten und den USA gibt? Knatsch erscheint vorprogrammiert. Ein gefährlicher Blankoscheck, den die EU ausgestellt hat und der noch dazu ihre eigenen Ansprüche nach Autonomie kontrakariert. Jedenfalls keine guten Nachrichten für eine Friedenspolitik mit friedlichen Mitteln.


Thomas Roithner ist Friedensforscher, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Mitarbeiter im Internationalen Versöhnungsbund. Sein jüngstes Buch „Flinte, Faust und Friedensmacht. Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik Österreichs und der EU“ erschien 2020 bei myMorawa. Web: www.thomasroithner.at

Titelbild: © European Union 2014 – European Parliament | „Soldiers carrying the EU flag“  | CC BY-NC-ND 2.0

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