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Corona, die Rückkehr zur Normalität und neue Formen des Nichtwissens

Corona hat uns unser Nichtwissen vor Augen geführt. Und jetzt, wo die Lockerungen wieder einsetzen, sehen wir uns mit einer der radikalsten Formen des Nichtwissens konfrontiert: Wie soll die Normalität aussehen, in die wir zurückkehren? Denn wenn eines feststeht, dann dass die Corona-Pandemie lediglich ein Vorgeschmack auf zukünftige Katastrophen ist. 

Von Florian Maiwald

Jetzt, wo die Lockerungen wieder einsetzen und das Wetter wieder gut ist, kommt vielerorts – berechtigterweise – Erleichterung auf. Doch gerade in Momenten der Ruhe ist es Zeit schonungslos Bilanz zu ziehen.

Eine erste Bilanz sollte in der Anerkennung der Tatsache bestehen, dass die Corona-Krise noch nicht vorbei ist. Eine weitere – in meinen Augen weitaus wichtigere – Konklusion, welche wir aus der Krise ziehen sollten, besteht darin, uns wieder dem Wert des Nichtwissens bewusst zu werden. Denn wenn uns die Krise etwas gezeigt hat, dann vor allem, dass das Wissen nicht ohne seine Negation – also das radikale Nichtwissen – bestehen kann.

Innerhalb weniger Monate haben die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen – allem voran die Virologie – erhebliche Erkenntnisfortschritte erzielt und immer mehr über das Virus und – damit untrennbar verbunden – über den Umgang mit eben diesem gelernt.

Das Nichtwissen

In Platons berühmter Apologie hat Sokrates einst sein berühmtes „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ ausgesprochen. Fälschlicherweise ist Sokrates Aussage oft als „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ übersetzt worden. Es scheint jedoch wichtig, auf diese Form der Fehlübersetzung aufmerksam zu machen. Denn das, auf was Sokrates eigentlich aufmerksam machen möchte, ist nicht der Umstand, dass er einfach nichts weiß, sondern vielmehr, dass das Nichtwissen an sich konstitutiv für unser menschliches Selbstverständnis ist und dass sich Wissen erst durch ein vorangegangenes Nichtwissen selbst legitimieren kann.

Mit diesen Formen des Nichtwissens – welche der Motor der Wissenschaften sind – wurden wir in den letzten Monaten auf vielfältige Art und Weise konfrontiert.

Weitaus interessanter scheint von daher die Frage, wie wir mit diesen Formen des Nichtwissens im Hinblick auf unsere derzeitige Lage umgehen. Man mag leicht zu der Annahme verleitet werden, dass der jetzige Sommer dem Sommer letzten Jahres in vielerlei Hinsicht ähnelt. Dies scheint jedoch bei näherer Betrachtung eine Fehlannahme zu sein. Im letzten Sommer schien die zurückgewonnene Normalität eher illusorischer Natur, da auf einer unbewussten Ebene vielen Menschen klar war, dass weitere Lockdowns in den kälteren Wintermonaten drohen würden – was sich u.a. dadurch erklären lässt, dass wir noch keine Impfstoffe und Testkapazitäten hatten. Im Gegensatz zum letzten Sommer haben wir jedoch einiges an Wissen erlangt und können – unter Vorbehalt – mit etwas mehr Hoffnung in die Zukunft blicken.

Die  EM und die alte (neue) Normalität

Jedoch sehen wir uns jetzt, in unserer im Ansatz zurückgewonnenen Normalität, wieder mit neuen Formen des Nichtwissens konfrontiert. Eine der wichtigsten Fragen besteht in diesem Zusammenhang darin, wie wir diese neue Form der Normalität, in welcher wir uns derzeit befinden, am besten normativ besetzen sollten.

Hierzu lohnt es sich zunächst genauer zu definieren, was Normalität überhaupt bedeutet und wie der Begriff der Normalität unsere lebensweltlichen Verhältnisse unmittelbar strukturiert. Zunächst sei in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Normalitätsbegriff selbst nicht statischer, sondern dynamischer Natur ist. Wie ich in einem Beitrag vergangenen Jahres ebenfalls angemerkt habe, versteht man unter dem Begriff der Normalität das, was den Normen, welche unser gesellschaftliches Zusammenleben strukturieren, entspricht. Normen sind in diesem Sinne, einfacher ausgedrückt, Regeln, welche in unserem alltäglichen Leben konstitutiv für die Grenzziehungen zwischen dem Selbstverständlichen und dem – zunächst – Unverständlichen sind. Letzten Sommer, als die Krise abgeflacht ist, haben wir das Selbstverständliche – Freunde in Bars treffen, Museumsbesuche, Reisen etc. – im Ansatz wieder erlebt.

Der jetzige Zustand ist jedoch in vielerlei Hinsicht anders. Auch jetzt, wo die Stimmung allgemein besser wird und wir auf einen entspannteren Sommer blicken, werden wir mit neuen Formen des radikalen Nichtwissens konfrontiert. Radikal ist dieses Nichtwissen insofern, als wir uns nicht darüber im Klaren sind, ob die Normalität, in die wir gerade zurückkehren, wirklich die Form von Normalität ist, in die wir zurückkehren wollen. Jener Antagonismus, welcher sich dadurch auszeichnet, dass wir zwar zurück in die Normalität wollen, aber nicht genau wissen wie diese Normalität im Konkreten aussehen soll, lässt sich v.a. am Beispiel der jetzt beginnenden EM verdeutlichen:

Tammo Blomberg macht in diesem Zusammenhang auf folgendes aufmerksam:

Auf diese EM im Sommer 2021 scheint sich kaum jemand zu freuen. Auch die Marketing-Maschinerie läuft schleppend an. Zwar prangen mal wieder Spielergesichter auf Coladosen – so könne man sich „ab sofort wieder ein Stück Fußballgefühl nach Hause holen“, schreibt der DFB auf seiner Website. Fußballgefühl? Genau das ist momentan kaum vorhanden, weder zu Hause noch anderswo. Das Hauptgesprächsthema an der Supermarktkasse und beim Spaziergang waren über Monate hinweg die Pandemie, die Maßnahmen; sicher nicht der Fußball, geschweige denn das nächste Deutschlandspiel. Mittlerweile reden wir zum Glück häufiger über Impftermine als über Lockdownregeln. Aber von der Leichtigkeit, die bei einem solchen Turnier mitschwingt, ist das Land weit entfernt.

Bedingt durch die Erfahrungen – und die damit einhergehende Zunahme an Wissen – welche wir in den letzten Monaten der Pandemie gesammelt haben, hat unser Weltbild und, damit  untrennbar verbunden, unsere Auffassung davon, was wir als normal und selbstverständlich erachten, eine Disruption erfahren. In den dunklen Wintermonaten, auch teilweise in Zuständen der Verzweiflung, wurde uns klar, dass die Pandemie selbst keine eindimensionale, sondern eine multidimensionale Krise ist. Anders formuliert: Das Tragische an der Corona-Pandemie sind nicht allein die gesundheitlichen Risiken, welche das Virus für uns Menschen birgt, sondern auch die psychischen und die sozioökonomischen Begleiterscheinungen, welche als ein unmittelbarer Bestandteil dieser Krise zu betrachten sind und ebenso viel Aufmerksamkeit verdienen.

Die Multidimensionalität der Krise

Das gewahr werden dieser Multidimensionalität hat jedoch eine Diskrepanz erzeugt, welche sich anhand des mangelnden Enthusiasmus im Hinblick auf die EM besonders gut verdeutlichen lässt. Auf der einen Seite haben die Menschen sich in den dunkelsten Momenten der Pandemie nach einer Rückkehr in die Normalität gesehnt. Doch jetzt, wo die Normalität langsam aber sicher wieder zurückkehrt, ist ein allgemeines Unbehagen zu verspüren. Im Februar hätten wir mit Vorfreude auf das kühle Bier und den Trubel der EM geblickt, doch jetzt, wo wir an diesem Punkt angelangt sind, haben wir sogar teilweise vergessen, dass die EM überhaupt begonnen hat. Die Diskrepanz, von welcher in diesem Zusammenhang die Rede ist, lässt sich nur dadurch begreifen, dass wir unsere jetzige Gegenwart aus einem ganz partikularen Standpunkt beurteilt haben: Solange die Normalität noch nicht da ist, kann man sich nach einem utopischen Zustand der Normalität sehnen. Doch erst wenn die Verhältnisse sich wieder normalisieren, sieht man sich mit der Frage konfrontiert, wie diese Normalität, nach der wir uns die ganze Zeit gesehnt haben, im Konkreten aussehen soll.

Im Hinblick auf weitere Pandemien und noch größere Gefahren wie dem Klimawandel wird uns bewusst, dass wir neue Vorstellungen davon brauchen, was für uns als normal zu erachten ist. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre – ganz im Sinne des Sokrates – wenn wir uns zunächst eingestehen, dass wir uns derzeit mit neuen Formen des Nichtwissens konfrontiert sehen. Aber gerade diese Formen des Nichtwissens, und da liegt die Paradoxie, können ja selbst neue Formen des Wissens darstellen. Indem wir uns eingestehen, dass wir nicht wissen, wie es weitergehen soll, können wir, auf Basis dieses Nichtwissens, nichts desto trotz neue Formen des Wissens generieren.

In der Corona-Pandemie haben wir unter anderem gelernt, dass die Natur nicht irgendeine abstrakte Entität ist, welche außerhalb von uns selbst existiert. Vielmehr haben wir gelernt zu begreifen, dass wir selbst Bestandteil von ebenjener Natur sind, was im Umkehrschluss unsere eigene Verletzlichkeit deutlich gemacht hat.

Die Simplizität des Natürlichen

Dies wird insbesondere im Hinblick darauf deutlich, dass ein Virus dazu in der Lage ist uns Menschen in einen globalen Krisenzustand derartigen Ausmaßes zu befördern. Wir werden uns durch die Pandemie das erste Mal schmerzlich der Tatsache bewusst, dass wir unmittelbarer Teil von eben jener Natur sind, welche wir oft als etwas von uns separiertes betrachten.

All dies ist umso interessanter vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Viren selbst die äußerste Manifestierung des Nichtwissens zu symbolisieren scheinen.

Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind Viren

[…] relativ einfach aufgebaut. Sie bestehen aus einem oder mehreren Molekülen und sind manchmal von einer Eiweißhülle umgeben. Die Moleküle enthalten das Erbgut – also die DNA oder RNA – mit den Informationen zu ihrer Vermehrung. Anders als Bakterien bestehen Viren weder aus einer eigenen Zelle noch haben sie einen eigenen Stoffwechsel. Sie haben keine eigene Energiegewinnung und keine Möglichkeit zur Proteinsynthese. Deshalb sind sie streng genommen auch keine Lebewesen.
Viren sind winzig, nur rund 20 bis 300 Nanometer groß. Deshalb kann man sie unter einem gewöhnlichen Lichtmikroskop auch nicht erkennen, sondern benötigt ein Elektronenmikroskop. Viren treten in vielen verschiedenen Formen auf. Einige Viren sehen beinahe wie Kaulquappen mit einem langen Schwanz aus, andere sind rund oder auch stäbchenförmig.

Anders formuliert: Im Gegensatz zum Menschen kann man bei Viren von einer relativ schlichten Form des Daseins sprechen, welche sich durch ein vergleichsweise geringes Maß an Komplexität auszeichnet und nicht einmal wirklich die Bezeichnung eines Lebewesens verdient. Dass diese Form der Simplizität uns in den letzten anderthalb Jahren gezwungen hat – und noch immer zwingt – all die Komplexitäten unseres Daseins zunichte zu machen, scheint eine der größten kognitiv-emotionalen Herausforderungen vor der wir jetzt stehen.

Das Virus hat uns – ungeachtet seines eigenen Nichtwissens – unser eigenes Nichtwissen vor Augen geführt. Aber vielleicht sollte man dieses Nichtwissen nicht als eine Negation unserer menschlichen Potenziale sehen, sondern gerade als die Basis, die für unseren allgemeinen Fortschritt unabdingbar ist.

Wenn also die Frage gestellt wird, ob wir zurück zur Normalität wollen, sollte die Antwort stets lauten: Ja, bitte! In einem zweiten Schritt sollten wir dann jedoch die Frage stellen, wie diese Normalität im Konkreten aussehen soll.

Titelbild von Capri23auto auf Pixabay 

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