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Die imperiale Lebensweise in Lateinamerika

Zur Wirkungsweise eines ausbeuterischen Verhältnisses.

Von Mathias Krams und Anna Preiser (A&W-Blog)

Wer profitiert vom Abbau natürlicher Ressourcen im Globalen Süden? Wer trägt die sozialen und ökologischen Kosten? Das Konzept der „imperialen Lebensweise“ hilft zu verstehen, wie eng verflochten Prozesse der Ressourcenausbeutung im Globalen Süden mit dem Konsum und Lebensbedingungen im Globalen Norden sind. Es schärft den Blick für Strukturen und Mechanismen, die globale Ungleichheiten (wieder-)herstellen, und erklärt, welche Faktoren den lokalen, nationalen, aber auch transnationalen Widerstand behindern.

Ausbeutung natürlicher Ressourcen mit sozial-ökologischen Folgen

Abbau und Verbrauch von natürlichen Ressourcen nehmen seit Jahrzehnten zu. Im Jahr 2017 betrug der weltweite Ressourcenverbrauch ca. 92 Milliarden Tonnen. Inkludiert sind hier, neben fossilen Energieträgern, metallischen und nicht-metallischen Mineralien, der Fischfang und die Jagd sowie die Erzeugnisse aus der Land- und Forstwirtschaft. Ein erheblicher Teil dieser Rohstoffe wird im Globalen Süden abgebaut und dann zur Weiterverarbeitung in den Globalen Norden gebracht bzw. dort konsumiert. Die Bevölkerung in reichen Ländern wie Österreich verbraucht einen ungleich höheren Anteil an natürlichen Ressourcen. Während in den reichsten Ländern der Erde pro Person über 20 Tonnen beansprucht werden, sind es in armen Ländern nur drei Tonnen.

Die Politikwissenschafter Ulrich Brand und Markus Wissen beschreiben diese ressourcenintensive Lebensweise im Globalen Norden als „imperiale Lebensweise“. „Imperial“ deshalb, weil nicht nur die Nutzung extrem ungleich verteilt ist, sondern auch weil die sozialen und ökologischen Kosten, die mit der Ausbeutung natürlicher Ressourcen entstehen, von Menschen im Globalen Süden getragen und im Preis der Produkte nicht entsprechend berücksichtigt werden. Dieses Ungleichverhältnis erscheint jenen, die an der „imperialen Lebensweise“ teilhaben können, als weitgehend legitim und „normal“. Die Akzeptanz der Verhältnisse ist tief in unser kollektives wie individuelles Bewusstsein eingeschrieben und prägt das Alltagshandeln. Zugleich ist die „imperiale Lebensweise“ aber auch institutionell tief verankert. Das geht auf eine lange Geschichte der Ausbeutung durch Kolonialismus und Imperialismus zurück und drückt sich heute u. a. in institutionellen Regelwerken, Freihandelsabkommen, Unternehmensformen und dem Zugang zu Staatsbürgerschaften aus. In den zwei aktuellsten Ausgaben des Journals für Entwicklungspolitik (JEP 2021-4 und JEP 2022-1) werden Strukturen, Mechanismen und Folgen dieser Lebensweise mit speziellem Fokus auf den lateinamerikanischen Raum analysiert.

Tierra Amarilla: Kupferabbau in Chile

In vielen Regionen des Globalen Südens wird Raubbau an natürlichen Ressourcen betrieben. Tierra Amarilla im Norden Chiles ist so ein Schauplatz. Seit den 1990er-Jahren werden hier von Bergbauunternehmen jährlich Tausende Tonnen an Gesteinsmaterial abgetragen und Kupfer extrahiert. Unverarbeitet wird der Rohstoff exportiert, weiterverarbeitet und als Bestandteil von Autos, Computern, Wasserrohren oder Kabeln eingesetzt. Der Wert des abgebauten Kupfers belief sich im Jahr 2008 auf ca. 460 Millionen Euro.

Der vonseiten der Bergbauindustrie und der Politik verkündete Fortschritt für die Region und das Versprechen von sicheren Arbeitsplätzen haben sich nicht eingestellt. Stattdessen schränken Naturzerstörung, Wasserverschmutzung und Konkurrenz um die Wassernutzung mit den Bergbauunternehmen die landwirtschaftlichen Aktivitäten der lokalen Bevölkerung ein. Auch auf die Gesundheit der Bevölkerung wirkt sich der Bergbau negativ aus und führt zu weit verbreiteten Atemwegs- und Krebserkrankungen. Dennoch formiert sich in Tierra Amarilla nur selten Widerstand gegen die Aktivitäten des transnationalen Unternehmens. Dies kann vor allem auf die territoriale Macht des Bergbauunternehmens zurückgeführt werden, das unter anderem die lokale Wirtschaft, den lokalen Arbeitsmarkt sowie die soziale Infrastruktur kontrolliert. Entscheidend auf die Stabilisierung der ausbeuterischen Struktur wirkt zudem das Teilhabeversprechen an einer „peripheren imperialen Lebensweise“. Ein Teil der lokalen Bevölkerung hofft weiterhin darauf, eines Tages für das Bergbauunternehmen arbeiten zu können und damit eine bessere soziale Absicherung zu erfahren (beispielsweise in Form einer Krankenversicherung). Als Angestellte der Bergbauunternehmen würden sie über ein Einkommen über dem Durchschnittsniveau verfügen und könnten ihre Kinder auf bessere Schulen und Universitäten schicken. Die Hoffnung auf zukünftige Teilhabe wirkt überzeugend und bleibt doch für die allermeisten ein leeres Versprechen.

Extraktivismus und Entwicklung

Neben Chile sind auch andere lateinamerikanische Länder bereits seit der Kolonialzeit als Rohstofflieferanten in den Weltmarkt integriert. Der Kolonialismus gab den Startschuss für die Aneignung von Land, Ressourcen und Arbeitskraft zum Nutzen des Globalen Nordens. Das Kolonialsystem schuf willkürliche Grenzen, erklärte Land (das früher von Gemeinschaften genutzt wurde) zum Privateigentum und schränkte die kollektiven Zugangsrechte ein. Diese koloniale Neuordnung wirkt bis heute fort – sowohl in den gesellschaftlichen Verhältnissen lateinamerikanischer Staaten als auch in den (Handels-) Beziehungen mit Europa. Am deutlichsten wird dieser Umstand am vorherrschenden Entwicklungsmodell: dem Extraktivismus. Über die ständige Ausweitung des Ressourcenabbaus und den Export von weitgehend unverarbeiteten Rohstoffen soll wirtschaftliches Wachstum und Entwicklung ermöglicht werden. Nutznießer dieses Modells sind neben dem Globalen Norden auch eine kleine städtische Mittelschicht und die besitzenden Klassen.

Ständige Ausweitung der Grenzen

Seit der Jahrtausendwende verstärkt sich in Lateinamerika aufgrund der Ausbreitung der „imperialen Lebensweise“ und der damit zusammenhängenden steigenden Nachfrage nach Rohstoffen die Ausweitung sogenannter „resource frontiers“ in vormals als unproduktiv erachteten, ökologisch sowie sozial sensiblen Gebieten, was zu einer zunehmenden Zerstörung von Lebensgrundlagen vor Ort führt. Insbesondere im Bereich des – für die Elektroindustrie so zentralen – Lithiumabbaus kommt es zur ständigen Ausweitung dieser Grenzen. Mit über 40 Lithium-Bergbauprojekten zählt Argentinien inzwischen zu den weltweit größten Lithium-Exporteuren, neben Australien, Chile und China. Dieser Prozess wird durch staatliche und private inländische wie ausländische Investitionen, Infrastrukturprojekte und Umstrukturierungsmaßnahmen gestützt und gefördert. Trotz vielfältiger sozialer Konflikte konnte sich die „imperiale Lebensweise“ auch in lateinamerikanischen Gesellschaften als dominantes Paradigma von „Entwicklung“ etablieren.

Widerstände und Brüche der imperialen Lebensweise

Die imperiale Lebensweise ist widersprüchlich und konflikthaft. Ihr Versprechen auf ein gutes Leben fußt auf der Gefährdung und Zerstörung jener Grundlagen, die für die Realisierung eines guten Lebens unerlässlich sind. Immer wieder entzünden sich an der Einschränkung der Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten natürlicher Ressourcen oder der besonderen Betroffenheit durch Wasserverbrauch oder -verschmutzung Konflikte zwischen lokalen Gruppen, transnationalen Unternehmen und Regierungen. Die Widerstände gegen Raubbau und Umweltzerstörung werden u. a. im Environmental Justice Atlas dokumentiert. Die Dokumentationsplattform hat das Ziel, Umweltkonflikte aus der ganzen Welt sichtbar zu machen und damit eine Grundlage für eine echte Rechenschaftspflicht von Unternehmen und Staaten zu schaffen.

Darin enthalten sind auch die Widerstände gegen den Lithiumabbau in Salinas Grandes, einer argentinischen Salzwüste in den Provinzen Salta und Jujuy. Seit den 2000er-Jahren protestieren hier lokale Gruppen, Arbeiter*innen, Viehzüchter*innen, nationale und internationale NGOs sowie Wissenschafter*innen gegen den Verlust an Biodiversität, Wüstenbildung/Dürre, Verschmutzung der Oberflächengewässer und die Erschöpfung des Grundwassers. Ihr Widerstand artikuliert sich nicht nur in der Organisation von Demonstrationen, Blockadeaktionen oder individueller Verweigerung, sondern auch in der Zurückweisung des dominanten nationalen Entwicklungsnarrativs, in dem die Salzwüste als „leerer“ Raum ohne Geschichte und ohne gesellschaftlichen Nutzen gedeutet wird.

Im Globalen Norden war es in den letzten Jahren insbesondere die Bewegung für Klimagerechtigkeit, die mit vielfältigen Strategien gegen die strukturelle „Resilienz“ einer unnachhaltigen Produktions- und Lebensweise ankämpft. Allerdings verhindert die tiefe gesellschaftliche und institutionelle Verankerung der imperialen Lebensweise bisher eine grundlegende sozial-ökologische Transformation hin zu einer gerechteren Weltgesellschaft.

Dieser Beitrag basiert auf einer durch die AK Wien geförderten Publikation des Mattersburger Kreises für Entwicklungspolitik. Ausführliche Analysen und Ergebnisse sind online als Schwerpunktausgaben des Journals für Entwicklungspolitik unter dem Titel „Imperiale Lebensweise ‚at workʻ in Lateinamerika“ (JEP 2021-4 und JEP 2022-1) frei zugänglich.


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