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Fernseher aus, Menschenrechte an

Die Kampagne „Football Blackout for Human Rights” fordert einen TV-Boykott der WM-Viertelfinalspiele am Tag der Menschenrechte – mit provokanten Sprüchen und dem Ziel, Fans zum Umdenken zu bewegen.

Von Moritz Ettlinger

Einschalten oder nicht: Selten wurde so hitzig diskutiert, ob es legitim ist, ein sportliches Großereignis vor dem Fernseher zu verfolgen wie bei der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer in Katar. Ist ein TV-Boykott für die einen ein Tropfen auf dem heißen Stein mit den Falschen im Visier, beteuern die andern, wie wichtig niedrige Einschaltquoten als Zeichen an die FIFA wären. Weltweite Einschaltquoten seien „DER Gradmesser für den Erfolg oder Misserfolg dieser WM“, schrieb etwa der ARD-Journalist Georg Restle im Vorfeld des Turniers auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Wie viele Menschen das Turnier tatsächlich und aus welchen Gründen boykottieren, ist schwer zu sagen. Rund 17 Millionen Menschen sahen laut Angaben des ZDF das Topspiel Spanien gegen Deutschland am vergangenen Sonntag, beim Eröffnungsmatch der Deutschen gegen Japan waren es dem Marktforschungsinstitut AGF zufolge überhaupt nur 9,2 Millionen. Zum Vergleich: Das erste Gruppenspiel Deutschlands gegen Mexiko im Jahr 2018 verfolgten knapp 26 Millionen Zuschauer*innen vor dem Fernseher. Das Interesse an der WM in Katar ist merklich geringer ist bei den Turnieren zuvor.

Football Blackout: Ein Zeichen durch TV-Boykott

„Diese WM ist völlig überflüssig, völlig überzogen und zeigt, wie menschenverachtend Fußball geworden ist“, sagt Jörn Menge, Gründer des Hamburger Vereins „Laut gegen Nazis“ im Gespräch mit Unsere Zeitung. Gemeinsam mit der Organisation „Boycott Qatar 2022“ und der Werbeagentur „Heimat“ hat “Laut gegen Nazis” die europaweite Kampagne „Football Blackout for Human Rights“ ins Leben gerufen. Am 10. Dezember, dem Tag der Viertelfinalspiele drei und vier, sind alle Menschen dazu aufgerufen, die Fernseher abzuschalten und ein Zeichen gegen das Turnier in Katar zu setzen. Denn: „Am Internationalen Tag der Menschenrechte sollte definitiv niemand Fußball schauen“, schreiben die Organisator*innen der Kampagne auf ihrer Website.

Die Liste der Kritikpunkte ist bekanntermaßen lang. Angefangen bei der korrupten Vergabe der WM im Jahr 2010 über die menschenrechtliche Lage im Gastgeberland – insbesondere für Frauen und queere Personen – und tausende tote Gastarbeiter*innen bis hin zu den aus dem Boden gestampften, heruntergekühlten Stadien: Gründe, die WM nicht zu schauen, finden sich zur Genüge.

„Heute masturbier ich lieber“

Deswegen sollen am 10. Dezember die TV-Geräte ausbleiben. „Heute küss‘ ich lieber meinen Queer-Partner Marathon, statt Fußball zu schauen“, lautet ein Vorschlag für eine alternative Aktivität an jenem Samstag auf footballblackout.org, „Heute masturbier‘ ich lieber den ganzen Tag. Aus Langeweile. Statt Fußball zu schauen“, ein anderer. Sujets mit markanten Statements wie diesen können von der Website heruntergeladen und sollen dann am Tag der Menschenrechte auf Social Media gepostet werden.

Sujets der Kampagne auf footballblackout.org

Dass neben politischen Statements auch eher platte Sprüche dabei sind, ist kein Zufall. „Wir wollen versuchen, die Massen zu erreichen“, erzählt Menge. Etwas politischer solle die Kampagne in den nächsten Tagen zwar noch werden, aber: „Wir müssen auch den Nerv der ‚normalen‘ Fußballfans treffen, die irgendwo mit einem Bierchen stehen und meckern, aber eben auch gerne Fußball schauen.“ Humor sei deshalb ein gutes Stilmittel.

Bockwurst statt WM

Neben niedrigen Einschaltquoten an besagtem 10. Dezember geht es den Initiator*innen aber vor allem um Bewusstseinsbildung. „Die Fans sind Teil dieser Menschenverachtung, wenn sie diese WM gucken. Es ist ein Aufruf, dass sie zu handeln beginnen. Dass sie darüber nachdenken, wem sie da eigentlich Geld in den Rachen werfen und was aus dem Fußball geworden ist“, sagt Menge. „Geh lieber Bockwurst essen, guck in der Kreisliga ein Spiel, da hast du genauso Fußball. Ist zwar technisch nicht ganz so gut, macht aber gleich viel Spaß.“

Aktuell zählt die Unterstützer*innenliste auf footballblackout.org etwas mehr 400 Personen und Organisationen. Eigentlich sollte die Zahl schon viel höher liegen, laut Menge gab es technische Probleme. Das Ziel sei jedenfalls, dass bis zum Aktionstag mehr als hunderttausend Menschen mit dabei sind. Um das zu erreichen sind neben provokanten Sprüchen auf Social Media mitunter noch Videos und Plakatkampagnen geplant. Auch in Österreich, vorrangig in Wien, sollen 3.000 Plakate verteilt werden.

Und was, wenn die 100.000er-Marke nicht geknackt wird? „Dann wäre das ziemlich tragisch“, sagt Jörn Menge, es wäre ein Zeichen für Ignoranz. „Und wenn diese Ignoranz weltweit anhält, dann gute Nacht. Ganz im Ernst.“


Titelbild: Unsplash / footballblackout.org (Collage)

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2 Gedanken zu „Fernseher aus, Menschenrechte an

  • Gerhard

    Jetzt muss ich mich doch einmal zu Wort melden. Nach meinem Besuch in Qatar vorige Woche und vielen Gesprächen vor Ort mit den lokalen Qataries aber auch Expats, die dort arbeiten hat sich für mich ein anderes Bild ergeben, als es gerne und weit verbreitet beschrieben (und kopiert) wird. Schlechte Behandlung von Arbeitern hat es über die letzten 12 Jahre sicher aber nicht weit verbreitet gegeben. Die Zahl von 6000 wurde ja inzwischen auf ca. 400 revidiert (genau wird man es wohl nie wissen, weil es so nicht erfasst wird). 34 pro Jahr sind immer noch zu viele! Aber es hat eine sehr erkennbare und gelebte Veränderung der Vorgaben gegeben! Luft nach oben aber am richtigen Weg! Zweite Wahrnehmung war die Weiterentwicklung der arabischen Kultur. Man darf nicht vergessen, wo die Grundlagen dieser Kultur (mit ihrem Frauenbild und auch ihrem Zugang oder eben nicht zu alternativen Lebensformen) waren und wo diese heute sind. Viel Luft nach oben für unser Weltbild, aber wer sich die Szene vor Ort anschaut wird viele auch lokale Frauen unverhüllt, attraktiv gekleidet und mitten drin sehen, sowohl in Restaurants als auch im Straßenbild. Die lokale Jugend bestätigt diese Entwicklung und den Trend! Es tut sich was – und ja, Fußball hat diese Entwicklungen beschleunigt! Zu den Stadien gäbe es auch noch viel zu sagen. Ist Qatar der richtige Ort und ist jetzt die richtige Zeit für eine Fußball WM? Die Vergabe vor 12 Jahren war geschoben, das ist ja inzwischen nachgewiesen. In Südamerika ist jetzt Frühling – nur weil es bei uns jetzt Winter ist und wir jetzt nicht draußen Fußball spielen? Und es ist jetzt übrigens nicht so heiss wie jeder meint – es ist warm. Aber das ist es bei uns im Sommer auch. Mein Résumé: jeder muss für sich entscheiden, ob er die Spiele anschauen will, ob einem das politische System dort gefällt (um dort Gas abzuholen stellen sich inzwischen fast alle europäischen Staatschefs dort an…), und ob einem der Veränderungsprozess zu langsam geht – ich finde nicht, dass ein Boykott gerechtfertigt ist, aber Zurückhaltung jedenfalls!

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