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Arno Geiger im Interview: «Das bestmögliche Leben»

Warum glückliche Geheimnisse auch mal offengelegt gehören und das Schreiben zum Glück gehört. Arno Geiger gibt Einblicke in sein neues Buch und die Innenwelten zweier Leben. – Sonntag ist Büchertag

Interview: Urs Heinz Aerni

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis (Hanser Verlag)

Urs Heinz Aerni: Herr Geiger, während der Zeit der Lektüre Ihres aktuellen Buches «Das glückliche Geheimnis» passierte es, dass ich spätabends beim Nachhausegehen bei einem Bündel Altpapier, das für die Abfuhr bereit lag, zögerte. Können Sie das nachempfinden?

Arno Geiger: Unbedingt. Das Glück liegt auf der Straße – man kann ja nicht alle derartigen Weisheiten unmittelbar wörtlich nehmen. Diese sehr wohl. Auf der Straße begegnet uns das Zufällige. Und Zufall ist für mich Inbegriff dessen, was unerwartet eintrifft und das Leben verändert.

Aerni: Also auch in dem, was andere Menschen der Entsorgung übergeben?

Geiger: Abfall ist eine ungemein kraftvolle Ressource in vielerlei Hinsicht. Und er ist Maßstab einer jeden Kultur, eine der Rückseiten des Lebens im Kontrast zu den oft geschönten Vorderseiten.

Aerni: Eine Art Adelung der profanen Alltagssachen, im Sinne für das Verstehen unserer Gesellschaft?

Geiger: Das in Ungnade Gefallene, das Beiläufige und Unscheinbare im Abfall hat uns mindestens so viel und oft andere Dinge zu sagen als das Geplante, Sensationelle und Elaborierte.

Aerni: Es ist ein persönliches, ehrliches Buch, eigentlich wie auch die anderen Bücher. In diesem bezeichnen Sie die Jugend als «Zwischenreich» und nach dem Studium käme die «Herausforderung, eine Daseinsform zu finden». Wie würden Sie die Schnittmenge zwischen dem physischen und literarischen Leben beschreiben?

Geiger: Man kann es eigentlich nicht «Schnittmenge» nennen, eins geht fließend ins andere über. Das Leben wirkt auf das Schreiben, das Schreiben wirkt zurück auf die Person, und es entsteht eine Wechselbeziehung, die sehr vielschichtig ist und bei der alles ineinandergreift. Wenn man’s ganz genau nimmt, ist aber, glaube ich, alles – auch die Beschäftigung mit Abfall – zunächst Schule des Lebens und erst in zweiter Linie Schule des Schreibens, dort schlägt sich das Erlebte und Erfahrene nieder.

Aerni: Sie zitieren als Motto Imre Kertész: «Immer hatte ich ein heimliches Leben, und immer war das mein wahres Leben.» Sie schreiben und entfalten dabei Facetten dieses «heimlichen» Lebens. Eigentlich ein Vorteil gegenüber Nichtschreibenden. Oder?

Geiger: Ich möchte hier nicht in den Fehler fallen, meine Lebensweise, die sich für mich bewährt hat, anderen einreden zu wollen. Nicht jede Geschichte passiert jedem und jeder, man bringt Voraussetzungen mit. Aber für mich ist es, glaube ich, das bestmögliche Leben. Dinge stoßen mir zu, und indem ich darüber nachdenke und schreibe, verstehe ich das, was mir zugestoßen ist, besser, und bekomme mehr Boden unter die Füße.

Aerni: Die Lektüre schickt den Lesenden quasi in einen Kippzustand zwischen Genießen und Unfassbarem…

Geiger: Ein «heimliches Leben» hat Anteil an beidem, Vorteil und Nachteil. Einerseits schön, einen Rückzugsraum zu besitzen und sich zwischendurch denken zu können, ich bin mehr als das, was ich scheine. Andererseits ist es nicht immer ganz leicht, diesen Rückzugsraum zu beschützen. Meine Wahrheitsliebe kam oft unter die Räder. – Jetzt habe ich das Geheimnis nicht mehr, dafür aber die Freiheit, davon erzählen zu können.

Aerni: Das Spazieren, das Flanieren samt Beobachten könnte als Ursuppe der Inspiration sein aber in Ihrem Buch steht der Satz: «Ich schleppte meine Dummheit im Kreis». Obwohl Sie nicht nur spazierten, sondern allerlei gefundenes Gedrucktes, von Tagebüchern bis klinische Protokolle, nach Hause brachten. Was prägte mehr Ihr Schreiben, das Beobachten oder der Fundus aus dem Altpapier?

Geiger: Die Auskunft, dass ich ganz am Anfang meine Dummheit im Kreis geschleppt habe, na ja, man darf nicht vergessen, wie jung ich war, drei-, vierundzwanzig. Ich war ein Grünschnabel, auf einem Terrain, wo mir jegliche Vorbilder gefehlt haben. Und wie meistens, wenn ein Mensch sich eine Sache ganz allein erarbeiten muss, hat es auch bei mir ein Weilchen gedauert, bis ich für mein Metier ein Näschen entwickelt hatte.

Aerni: Und auf die Dauer wird dann jede Tätigkeit, wie soll ich es nennen, wesentlich für die Identität und in Ihrem Fall auch für das Schreiben?

Geiger: Das Leben prägt das Schreiben und umgekehrt, man kann das tatsächlich schwer «auseinanderheuen». Aber ich bringe natürlich zunächst die Person mit, die überhaupt in der Lage ist, zu beobachten, wahrzunehmen, Schlüsse zu ziehen. Das bleibt nicht auf einen einzelnen Lebensbereich beschränkt. Alles ist Aufgeschnapptes. Ich bin auf der Straße oder zu Hause oder im Beruf, ich bewege mich, ich lebe, ich bin Teil der Welt.

Arno Geiger auf der Leipziger Buchmesse 2018. Foto: Amrei-Marie, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Aerni: Weit hinten im Buch lesen wir, dass nun ein Geheimnis weniger in der Welt gibt und ein «dunkler Deckmantel» Ihres Doppellebens am Boden liege, weil Sie es so wollen. Warum eigentlich?

Geiger: Lebenskunst ist die Kunst, sich zu verändern. Indem ich aufhöre, schaffe ich Freiräume. Außerdem: Von dem, was im Zusammenhang mit meinen Streifzügen in die Person übergangen ist,  zehre ich ein Leben lang, als Mensch, davon bin ich überzeugt. Das geht nicht verloren, nur weil ich aufhöre.

Aerni: Das Aufhören als Reset-Taste?

Geiger: Die Alternative, einfach immer weiterzumachen in der Angst, dass nichts Besseres nachkommt, hat auch etwas Einengendes. Das rechtzeitige Aufhören schafft die Möglichkeit, sich neu zu orientieren, die Rahmenbedingungen zu verändern, neue Perspektiven zu schaffen. –  Lass die Hand offen, lass den Vogel fliegen.

Aerni: Das Buch ist auch eine Liebeserklärung an Bücher. Sie schreiben, dass das Lesen die Lebenszeit verlängert und nicht verkürzt.

Weil wir in kurzer Zeit die Erfahrungen nachvollziehen können, die ein anderer Mensch in Jahren oder Jahrzehnten gemacht hat. Wir gewinnen Erfahrung im Zeitraffer.

Und als Leser stellt man fest, dass es ein Gewinn sein kann, wenn ein anderer Mensch sich zu öffnen wagt.

Geiger: Ich war immer ganz begeistert von Offenheit, wenn sie mir in Gefundenem begegnet ist. Und daraus habe ich meine Schlüsse gezogen. Deshalb auch meine Offenheit in diesem Buch. Ein freimütiges Erzählen, das neben allem Schönen die Härten und Kompliziertheiten nicht ausklammert, läuft am Ende doch immer auf das eine hinaus, auf eine Liebeserklärung an das Leben.


Dieses Interview wurde zum ersten Mal im Magazin «Lesen» veröffentlicht, das von Orell Füssli Thalia Schweiz herausgegeben wird.

Das Buch: «Das glückliche Geheimnis», Arno Geiger, 240 Seiten, Hanser Verlag, 978-3-446-27617-8, 2023

Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wien und Wolfurt. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt Alles über Sally (Roman, 2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen (Drei Reden, 2011), Selbstporträt mit Flusspferd (Roman, 2015) und Unter der Drachenwand (Roman, 2018). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Alemannischen Literaturpreis (2017), den Joseph-Breitbach-Preis (2018), den Bremer Literaturpreis (2019) und den in den Niederlanden vergebenen Europese Literatuurprijs (2019).

Titelbild: Buchcover / UZ

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