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Fußball in Spanien: Zwei gegensätzliche Märchen

Der Athletic Club aus Bilbao und der FC Girona mischen in der aktuellen Saison den spanischen Männerfußball auf. Es sind zwei Überraschungen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen.

Von Moritz Ettlinger 

In den Schlussminuten wird es noch einmal richtig eng. Der Athletic Club führt am Montagabend gegen den FC Girona, es läuft die fünfte Minute der Nachspielzeit. Nach einem langen Ball hinter die Abwehrkette der Basken scheitert Girona-Stürmer Sávio zunächst am Torwart, den Nachschuss von Jhon Solís kratzt Verteidiger Dani Vivian dann spektakulär mit dem Kopf von der Linie. Wenig später pfeift der Schiedsrichter ab, der Athletic Club schlägt Girona vor heimischem Publikum mit 3:2, die Fans jubeln.

An der Tabellensitutation in der spanischen Primera División ändert dieses Spiel wenig. Nach wie vor liegt der FC Girona auf dem zweiten Platz mit 56 Punkten, Bilbao rangiert drei Plätze und sieben Punkte dahinter. Dass diese beiden Vereine nach 25 Spieltagen so weit oben in der Tabelle zu finden sind, ist für die meisten Beobachter*innen überraschend. Die Voraussetzungen für diese Überraschungen sind bei den Klubs aber höchst verschieden. 

Märchen mit Schönheitsfehler 

Auf den ersten Blick ist es tatsächlich das medial vielzitierte „Märchen“. Bis inklusive der Saison 2016/17 spielte der FC Girona über mehrere Jahrzehnte in der zweiten und dritten spanischen Liga. Nach dem Aufstieg hielten sich die Katalanen zwei Saisonen lang in der erstklassigen Primera División, bevor es im Sommer 2019 wieder eine Etage nach unten ging. Erst die Saison 2022/23 verbrachte Girona wieder im spanischen Oberhaus und beendete die Spielzeit auf Platz zehn.

In der laufenden Saison dann der scheinbar unaufhaltsame Erfolgslauf. Von den ersten 23 Ligaspielen verliert Girona nur ein einziges, spielt fünf Mal Unentschieden und gewinnt 17 Partien. Wochenlang steht man an der Spitze der Tabelle, und auch jetzt ist das Team von Trainer Miguel Ángel Sánchez Múñoz noch voll im Titelrennen.

Eine modernen Fußballmärchen also, ein David im Kampf gegen die Goliaths des spanischen Fußballs? Nicht ganz. Denn die Saison 2016/17 markierte nicht nur den erstmaligen Klassenerhalt in der Primera División, sondern auch den Beginn einer Zusammenarbeit, die maßgeblich zum derzeitigen Erfolg beiträgt.

44,3 Prozent: So hoch ist der Anteil, den die City Football Group am 23. August 2017 am FC Girona erworben hatte. Die City Football Group steht mehrheitlich in Besitz des Staates Abu Dhabi und versammelt unter ihrem Dach neben dem großen Aushängeschild Manchester City auch Klubs wie den New York City FC, den Melbourne City FC, den FC Palermo oder die Yokohama Marinos. Weitere 44,3 Prozent gehören außerdem der Girona Football Group, der Pere Guardiola vorsteht, seines Zeichens Bruder von ManCity-Trainer Pep Guardiola.

Diese Kontakte macht sich der FC Girona zunutze. Rechtsverteidiger Yan Couto wurde beispielsweise von Manchester City für die laufende Saison ausgeliehen, Mittelfeldspieler Yangel Herrea im Sommer 2023 fix vom selben Verein verpflichtet. Auch Aleix Garcia und Eric Garcia spielten früher für Manchester City. Das brasilianische Top-Talent Sávio kam leihweise vom französischen Zweitligisten Troyes, der ebenfalls zum Netzwerk der City Group gehört. Umgekehrt ist der kleine Verein in Katalonien ein Sprungbrett für Spieler wie den hochveranlagten Artem Dovbyk, die auch mit der Perspektive auf ein mögliches Engagement in Manchester nach Girona wechseln. Der Erfolg des FC Girona kommt nicht von ungefähr.

Eine andere Philosophie

662 Autokilometer nordwestlich von Girona befindet befindet sich Bilbao. Nicht nur die Städte, auch die Philosophien der beiden ansässigen Fußballvereine sind meilenweit voneinander entfernt. Beim Athletic Club setzt man seit der Gründung des Vereins im Jahr 1898 grundsätzlich und bewusst auf Spieler, die entweder in den baskischen Provinzen in Spanien oder Frankreich geboren wurden oder eine Zeit lang in ihrer Jugend dort gespielt haben.

Diese Kaderphilosophie schränkt zunächst ein, vor allem auf dem Transfermarkt. In den letzten drei Spielzeiten gaben die Basken keinen einzigen Cent für die Verpflichtung neuer Spieler aus, auch in den Jahren davor sind teure Zugänge eine Seltenheit. Häufiger bewegt sich etwas auf der Einnahmenseite: So gab man Aymeric Laporte in der Saison 2016/17 für 65 Millionen Euro an Manchester City ab, ein Jahr danach wurde Kepa Arrizabalaga für 80 Millionen Euro an den FC Chelsea verkauft. Doch auch Transfers wie diese sind eine Rarität. Viele baskische Fußballer halten ihrem Verein die Treue.

Der Athletic Club unterscheidet sich von anderen Vereinen aber nicht primär darin, wie er sein Geld einnimmt – Millionen aus TV-Verträgen und Sponsoring lehnen auch die Basken nicht ab –, sondern wie er es ausgibt. Ein großer Teil der Einnahmen fließt in die eigene Jugend. Mit Erfolg: Von Nationaltorhüter Unai Simon über Kapitän Iker Muniain bis hin zum brüderlichen Stürmer-Duo Nico und Iñaki Williams durchliefen viele Stammspieler die Akademie des Klubs.

„Der Athletic Club als Institution und seine Anhänger zeichnen sich dadurch aus, dass sie Werte verteidigen wollen, die im Fußball und im Sport insgesamt im 21. Jahrhundert immer ungewöhnlicher werden“, schreibt der Verein über die eigene Philosophie auf seiner Website. Ungewöhnlich, und trotzdem erfolgreich – in Anbetracht der eigenen Möglichkeiten.

Titelchancen intakt 

Die Chance, die bis dato so gelungene Saison mit einem Titel zu krönen, ist bei beiden Vereinen gegeben. Vor allem beim Athletic Club: Nach einem 1:0-Sieg gegen Atlético Madrid im Hinspiel der Copa del Rey sind die Basken auf bestem Wege, ins Cupfinale einzuziehen, wo dann entweder Mallorca oder Real Sociedad warten würde.

Beim FC Girona wird die Sache schwieriger: Sechs Punkte trennen die Katalanen mittlerweile von Tabellenführer Real Madrid, und müssen damit darauf hoffen, dass die „Königlichen“ im Saisonfinish schwächeln. Im Cup war die Reise im Viertelfinale zu Ende.

In beiden Städten – sowohl in Girona als auch in Bilbao – ist es aber schon ein großer Erfolg, zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt um Titel mitspielen zu können. Egal, wie es am Ende ausgeht: Als „Überraschungsmannschaften“ können beide ohne schlechtes Gewissen bezeichnet werden – wenn auch mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen.


Titelbild: Franco Alani auf Unsplash

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