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Ich weiß nicht, was ich tun soll

Langeweile im Kontext von Kapitalismus und Erwerbsarbeit ist ein tabuisierte Gefühl. Man sollte es produktiv wenden. – Sonntag ist Büchertag

Von Cornelia Stahl (kritisch-lesen.de)

Buchcover
Silke Ohlmeier – Langeweile ist politisch (Leykam Verlag)

Im Straßenmagazin AUGUSTIN las ich, dass der Verkäufer, bei dem ich die Zeitung regelmäßig erwerbe, nach fünfzehn Jahren endlich einen gültigen Aufenthaltstitel in Österreich bekommen hat, der ihm unter anderem erlaubt, regulär im ersten Arbeitsmarkt tätig zu werden. Ich fragte mich, wie man fünfzehn Jahre des Wartens mit der Ungewissheit, ob man bleiben kann oder zurückgeschickt wird, physisch und psychisch bewältigen kann: politisch verordnetes Nichtstun!?

Ambivalenzen der Langeweile

Um Langeweile aus politischer Sicht dreht sich alles im vorliegenden Essay der Soziologin Silke Ohlmeier, die in dem zehn Kapitel umfassenden Text persönlich anekdotisch einsteigt, indem sie von Zeiten der Langeweile während ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau berichtet; Zeiten, in denen sie sich massiv unterfordert fühlte. Von der persönlichen Erzählung wechselt Ohlmeier hinüber in eine sachliche Begriffsdefinition von Langeweile und hebt die Ambivalenz einer einheitlichen Definition hervor. Die Autorin stützt sich dabei auf Theorien des Langeweileforschers John Eastwood, der Langeweile als „aversive Erfahrung, einer befriedigenden Tätigkeit nachgehen zu wollen, es aber nicht zu können“ (S. 27) definiert. „Aversiv“ inkludiert eine innere, als unangenehm empfundene Abwehrhaltung.

In weiterer Folge zählt Ohlmeier Gefühle auf, die im Kontext von Langeweile auftauchen, sich mitunter semantisch überschneiden: „Insofern ist chronische Langeweile keine Form der Depression. […] [G]elangweilte Menschen sind, im Gegensatz zu Menschen in akuten depressiven Phasen, nicht antriebs- oder interessenlos“ (S. 28). Mitunter bleibt die Aneinanderreihung von Gefühlen, die mit Langeweile einhergehen sowie die Aufzählung von Erscheinungsformen chronischer Langeweile hier etwas abstrakt.

Gespräche hinter vorgehaltener Hand

Ohlmeier definiert die Gruppe derer, die häufig von Langeweile betroffen sind: „Heutzutage schreiben wir Langeweile nicht mehr so sehr den Reichen und Einflussreichen, sondern häufig den Arbeitslosen, den Hausfrauen oder den Rentner:innen zu.“ (S. 37 f.)

Über Langeweile öffentlich zu sprechen, ist immer noch tabuisiert. Wenige würden zugeben, dass sie sich langweilen. Ohlmeiers Anliegen ist es, dieses Tabu anzusprechen und aufzubrechen: Nichtarbeit und Langeweile, und die Verknüpfung von Arbeit, Anerkennung und gesellschaftlicher Teilhabe: „Arbeitslosigkeit ist ein Stigma und auch die wohlverdiente Rente geht mit einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust einher“ (S. 38). Ohlmeier argumentiert dabei überwiegend aus einer westdeutsch geprägten Perspektive; Erfahrungen Ostdeutscher bleiben unberücksichtigt, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zur Gefühlslage der Nachwendezeit 1989/1990 existieren. Am Ende des einführenden Kapitels resümiert die Soziologin:

„Langeweile […] allein Menschen ohne Lohnarbeit und Rentner:innen zuzuschreiben, beruht auf einer Idealisierung von Arbeit, falschen Vorstellungen von Nichtarbeit. […] Langeweile kann eine ganze Menge über die Gesellschaft verraten.“ (S. 41)

Politisch Verortung

Im Kapitel „Irgendwie ist doch alles politisch! Jetzt sogar Langeweile“ verknüpft die Autorin das Thema Langeweile mit der Frauenbewegung ab den 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Immer wieder greift Ohlmeier die Redewendung „Das Private ist politisch“ auf und fragt:

„Was bedeutet es also, wenn ich sage, dass Langeweile politisch sind? Im weitesten Sinne, dass gesellschaftliche Machtstrukturen, Denk- und Handlungsweisen mitverantwortlich für die Entstehung von Langeweile verantwortlich ist“. (S. 46)

Die Soziologin verortet Langeweile bei jugendlichen Migrant:innen in den französischen Banlieues und macht ihre Marginalisierung vordergründig für ihre Langeweile verantwortlich. Eine Studie zum Leben französischer Jugendlicher wäre an dieser Stelle hilfreich gewesen, um die zuvor aufgestellte These argumentativ zu stützen.

Im Kontext von Emotionen und Langeweile zitiert Ohlmeier aber die Studie einer israelischen Aktivismusforscherin, die namenlos bleibt. Darin berichten Rentner:innen, dass sie „aus Angst vor der Langeweile heraus angefangen haben […], sich für Klimagerechtigkeit zu engagieren“. Die Proband:innen gaben an, sich für etwas Gutes einsetzen zu wollen „anstatt zu Hause zu sitzen und sich zu langweilen“ (S. 47).
Die Soziologin würdigt die Potenziale von Langeweile: „sich für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit einzusetzen“ (ebd.).

Am Ende plädiert Ohlmeier für ein neues Verständnis von Langeweile:

„Immer wieder stelle ich in meiner Forschung […] fest, dass die Idee, man könne beschäftigt und gelangweilt sein, vielen Menschen fremd ist. Deswegen braucht es […] ein neues, tätigkeitsunabhängiges Alltagsverständnis von Langeweile.“ (S. 63)

Die Verknüpfung von Kapitalismus und Langeweile zu erkennen sowie die Idealisierung von Arbeit infrage zu stellen, dazu regt die Soziologin an und bringt einen Stein ins Rollen, um gesellschaftliche Machtstrukturen aufzubrechen. Ein anregender Essay über ein tabuisiertes Gefühl.


Silke Ohlmeier (2023): Langeweile ist politisch. Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät.
Leykam, Graz – 256 Seiten. 23,50 Euro.
ISBN: 978-3-7011-8270-1.

Dieser Beitrag wurde am 09.04.2024 auf kritisch-lesen.deKooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.

Titelbild: Ruben Ramirez auf Unsplash (Symbolbild)

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