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„Vielleicht habe ich zu wenig Angst?“

je suis volkerGastkommentar von Maximilian Zirkowitsch (HYDRA! Das endgute Satiremagazin.)

Hui, da tun sich ja schwergewichtige Meinungen auf! Gut, wenn man eine hat, besser noch, wenn sie niemandem wehtut. Liebe Redaktion der Unsere Zeitung, ich steuere gerne ein paar Zeilen als Satiriker bei.

Zurück zum Artikel! Ich meine, dass viele ein bisschen in die Falle tappen und die Rhetorik des nationalen Schulterschlusses übernehmen, wenn sie von einer allgemeinen Privilegiertheit schreiben, die wir in Europa teilen und genießen. Dabei nehmen sie die Saturiertheit vorweg, die sich in „unseren“ Breiten bequem eingerichtet hat. Es gefällt mir allerdings sehr, dass sie sich kaum mit Religiosität und Religion beschäftigen. Darum geht es nicht und soll es nicht gehen, es geht allerdings auch nicht um Ethnizität, völkische Herkunft oder Hautfarbe. Die Schwierigkeit, die echte RassistInnen haben ist, dass man Menschen wie die Attentäter, sollten sie noch leben, eben nicht abschieben kann. Wohin auch? In das XIXième arrondissement? Nach Simmering? Nach Rinkeby-Kista (Stockholm)? Wenn die nämlich ein nationales Haus als Bild nehmen wollen, müssen sie sich eingestehen, dass die Veränderung – denn mehr ist es schon wieder nicht! Verhetzung, Hass und Gewalt sind sehr christlich-jüdisch-stoisch-attisch-europäisch – hausgemacht ist. Zum sozialen Problem wird die Veränderung, weil sie nicht gewollt ist und der Staat sie nicht steuern kann, anders als bei den Dummköpfen, die Flüchtlingswohnheime anzünden. Sie sind dumm, weil sie die Fremdenrechtsregime auf die Spitze treiben.

Ich stimme vollkommen zu, dass die Devianz ein hedonistisches Lebensgefühl von Menschen ist und die Erfüllung der Erwartungen durch Auffallen gelingt. Und Subalterne haben eben nicht die Marie und das Prestige um teure lustige Hüte zu tragen, kritisch zu konsumieren usw. Es geht um Menschen, denen gegenüber die zweite Moderne ihre Versprechen  nicht gehalten hat. Allerdings war es nie, auch wenn so getan wurde, ein Versprechen an eine ganze Generation. Hayat, Emedy, Chérif und Saïd wurde doch nichts versprochen. Man hat sie getröstet und ihnen gesagt: „Wir brauchen auch gute Maurer.“ Freilich gibt es Eigenverantwortung. Die Eigenverantwortung des Menschen ist spätestens seit der Antike auch weder leugenbar noch verhandelbar, da kann noch so viel von sozialen Ursachen lamentiert und über fatalistische Religionsbilder philosophiert werden. Die Tragik besteht darin, dass sich in Paris diese Menschen ihrer Verantwortung bewusst wurden und sie wahrgenommen haben. Welche andere Verantwortung war ihnen denn sonst über? Das klingt zynisch, weil es zynisch ist. Und so wie mich die Ereignisse ein bisschen betroffen gemacht haben, haben die Verhältnisse die Attentäter zynisch gemacht. Und nichts als angewandter Zynismus ist das Attentat. Sebastian hat mal gesagt: „Weißt du was zynisch ist? ‚Arbeit macht frei‘, das ist zynisch.“ Und damit hat Sebastian sehr viel über die Moderne gesagt.
Weißt du, was mich noch mehr betroffen gemacht hat? In den Stunden nach den Morden bekam ich zwei Anfragen um einen Artikel, eine um einen Vortrag, vier Kondulenznachrichten und drei Anrufe, die sich nach meinem Befinden erkundigten. Sieben Menschen haben mich mit Mails und SMS seitdem auf dem Laufenden gehalten. Vielleicht habe ich zu wenig Angst?

Die bigotte Bilderflut auf facebook ist nicht mehr auf facebook beschränkt. Die Bilder hängen auf Rathäusern und werden auf Kundgebungen hochgehalten. Irgendwo im IS Kalifat werden wahrscheinlich auch Bilder hochgehalten, die in Zusammenhang mit den Morden stehen. Und solange die Differenz zwischen „uns“ und den Attentätern betont wird, solange halten wir auch ein Bild hoch, das nicht mehr haltbar ist. Aus der Mitte der rassistischen, religionsfeindlichen, sexistischen, mordenden Gesellschaft wurden die Morde in der Mitte dieser Gesellschaft an ihr verübt.
Vielleicht habe nicht nur ich zu wenig Angst.

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