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Der Sound der Migration

Aus Migration entstandene Musikgenres werden von der Industrie auf Linie gebracht 

Von Andreas Bulker


„Auch in der Musik hat das Monopol der Tüchtigen überlebt“, konstatierte einst Adorno. Wertschöpfung bleibt nun mal Wertschöpfung – egal, ob bei Siemens oder Sony. Auch Musiker mit Migrationshintergrund haben sich dieser Logik zu unterwerfen, wollen sie vom kulturindustriellen Komplex mit der ihm eigenen „Willkommenskultur“ bedacht werden: Türken rappen gefälligst auf Türkisch, Afghanen auf Paschtunisch, jeweils mit heimischen Klängen gewürzt, um den Schein der Diversität zu wahren. Finden sich dann genug gewinnversprechende Rezipienten, vermarkten die Major-Labels die ganze künstliche – und weniger künstlerische – Mixtur als kulturelle Vielfalt. Wer dagegen nicht nach dieser weltmusikalischen Pfeife tanzen will, kann weiter auf kleinen Soli-Veranstaltungen spielen und darauf hoffen, dass wenigstens genug dabei herausspringt, um sich die Rosshaare zur Bespannung seiner Gusle zu leisten. Aber wo liegen überhaupt die migrantischen Wurzeln von Musikgenres, die heute von der Musikindustrie als „World Music“ systematisch auf Linie gebracht werden?

KlezmerBeispiel Klezmer: Die traditionelle jüdische Instrumentalmusik entwickelte sich im Osten Europas, wo die Musikpraxis jiddischsprachiger Juden seit dem Mittelalter in befruchtende Wechselbeziehung zu Volksliedern verschiedener slawischer und südosteuropäischer Kulturen trat. Viele jüdische Migranten, die mit den Auswanderungswellen um 1900 das kapitalistisch fortgeschrittene Amerika erreichten, empfanden ihre Klezmer-Tradition nun als unpassend und altmodisch. Stattdessen genossen die oft ebenfalls von jüdischen Migranten komponierten Gassenhauer aus der New Yorker Tin Pan Alley, dem damaligen Zentrum der US-amerikanischen Musikindustrie, große Beliebtheit. Zu ihren Autoren zählte auch der Kantorensohn George Gershwin, der die während seiner Jugend gewonnenen Klezmer-Eindrücke im Klarinetten-Glissando zu „Rhapsody in Blue“ (1924) verarbeitete. Der alte Klezmer-Stil wurde seither nur noch von wenigen der Tradition verhafteten Künstlern wie Dave Tarras, Naftule Brandwein oder den Epstein Brothers für ein kleines, fast ausschließlich jüdisches Publikum gespielt, bis in den 1970er-Jahren die kalifornische Gruppe The Klezmorim mit ihren Blechblasinstrumenten und schnellen Tempi ein konservierendes Revival einläutete. Während Avantgarde-Musiker wie John Zorn und Don Byron dem Klezmer zu einer Neubelebung und Weiterentwicklung verhalfen, erzielten Bands wie The Klezmatics oder Brave Old World in den 1980ern im World-Music-Segment große Markterfolge.

Auch die Musikkultur der Roma wurzelt in einem Leben, das häufig von unfreiwilliger Migration, von Vertreibung, Flucht und Verfolgung, bestimmt war. Eine gewichtige Rolle spielten ihre musikalischen Traditionen für die Popularisierung und Weiterentwicklung des spanischen Flamencos (einem Stil, der seine Kraft jenseits aller Folklore aus einer Vielzahl migrantischer Einflüsse speist), darunter maurische, arabische und afrikanische. Die Gitanos – unter diesem Namen kennt man die Roma-Gemeinschaft in Spanien – kamen im 15. Jahrhundert auf die Iberische Halbinsel, seit Beginn des 19. Jahrhunderts war der Flamenco in Form des „Cante gitano“ unter den Zigeunern in Andalusien verbreitet. Einer der bedeutendsten Flamenco-Sänger des 20. Jahrhunderts, Camarón de la Isla, begann als Sohn einer Gitano-Familie schon mit sieben Jahren in den Bars seines Heimatorts San Fernando zu singen und knüpfte Kontakte zu anderen Flamenco-Sängern. De la Isla erinnert sich: „Wann immer Künstler in der Stadt waren, endete das Fest bei uns zu Hause. […] Ich hörte das alles, und die Dinge blieben hängen“ – und verweist damit auf die weiterhin vorwiegend mündliche
Tradierung dieses Musikstils. Erst de la Islas Kooperation mit dem Gitarristen Paco de Lucía, der ein völlig neuartiges Gitarrenspiel zelebrierte, passte den Flamenco an Gewohnheiten und Geschmack populärer Musikhörer an und machte den Weg frei zur weltweiten Vermarktung.

Sowohl der Klezmer als auch der Flamenco haben sich unmittelbar im kulturellen Spannungsfeld migrantischer Prozesse entwickelt. War Klezmer in erster Linie Hochzeits- und Festmusik für die Juden, deren Unterhaltungswert für andere Bevölkerungsgruppen als bloße Nebensache erschien, so gingen im Flamenco die unterschiedlichen musikalischen Einflüsse gleich den Bevölkerungsströmen selbst eine Symbiose ein, bis diese im Ausdruck eines nationalen spanischen Kulturguts erstarrte. Beiden Genres ist gemeinsam, dass ihr Fortleben im eigenen Gattungsbegriff bloß noch konservatorischen oder allenfalls kommerziellen Zwecken dient und jegliche musikalische Weiterentwicklung zugleich ihren Transfer in ein anderes Genre, etwa das des Jazz, bedeutet.

The_New_Orleans_Jazz_VipersDer Jazz ist laut Musikjournalist Joachim-Ernst Berendt seit jeher vom „Sound der Migration“ geprägt – paradigmatisch versinnbildlicht im lokalen Topos der Stadt New Orleans, der „Wiege des Jazz“ im US-amerikanischen Bundesstaat Louisiana. In diesem kulturellen Schmelztiegel trafen die Protagonisten der großen transatlantischen Völkerwanderungen des 19. Jahrhunderts aufeinander: Franzosen, Spanier, Engländer, Italiener, Deutsche, Slawen, unter ihnen viele Juden, standen den Nachkommen der aus Afrika verschleppten Sklaven gegenüber. Ende des 19. Jahrhunderts wurde hier die Ursuppe des Jazz aufgekocht, die sich in der Folge in mannigfache Unterstile ausdifferenzierte, ohne dabei ihr wesentlichstes Merkmal – nämlich Musiksprache zwischen den Kulturen zu sein – zu verlieren. Auch wenn in Miles Davis’ Ausruf „Ich spiele nicht für weiße Leute, Mensch“ noch der Stolz, das Selbstbewusstsein und der Protestwillen der schwarzen Generationen anklingen, so produzieren Musiker heute ihren Jazz nicht mehr für die eigene ethnische Gruppe.

Die Entwicklung der Musik, so der englische Komponist Steve Hartland, wird auch weiterhin von transnationalen Bewegungen und dem darin angelegten Kulturaustausch profitieren: „Die Musik der Zukunft wird ein Hybrid sein, eine bunte Mischung, getragen vor allem von den Asylwerbern, Flüchtlingen und Migranten.“ Doch eine beständige kulturell-kreative Verflechtung verschiedener Ethnien, die unter Praktiken gemeinsamen Musizierens und Rezipierens zu neuen Genres führt, ist ohne den Einfluss der Unterhaltungsindustrie gar nicht mehr zu denken. Als Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche spanischsprachige Migranten nach Los Angeles auswanderten, behielten sie ihre traditionellen Musikstile wie Bolero, Fandango, Son und Cumbia (die wiederum Resultate von Migration waren) noch lange bei. Erst die in den 50er- und 60er-Jahren stattfindende verbreitete Medialisierung der Musik ließ den US-amerikanischen Rock’n’Roll in die Marimba- und Mariachi-Orchester einfließen und so den Tex-Mex entstehen. Eine Vermarktung, die mit Ritchie Valens Hit „La Bamba“ um die Welt ging, aber mit dem Entstehen neuer Genres und Stile durch Migration nur mehr im Sinne des Entstehens neuer Märkte zu tun hatte.

Auch islamische Musikstile wie der Naschid, ein a cappella vorgetragener Gesang mit religiösen Inhalten, wurden durch interkulturelle Begegnung in die Welt getragen und weiterentwickelt. Nachdem Cat Stevens, 1977 zum Islam konvertiert, seine Gitarre abgelegt und sich in Yusuf Islam umbenannt hatte, begann er unter Begleitung der ausschließlich erlaubten Perkussionsinstrumente auf englischer Sprache Naschids zu singen – mit mäßigem Erfolg, der selbst durch die Musikindustrie nicht forciert werden konnte. Damit ist aber keinesfalls besagt, dass sich Naschids nicht für eine kommerzielle Vermarktung in der westlichen Welt eignen. Nur für den Moment steht diese Gattung in keinem guten Ruf, dient sie doch, wie im Fall des ehemaligen Gangsta-Rappers Denis Cuspert, vielfach als Propaganda- und Kampf-Instrument des IS. Doch Aussagen wie die des Nahost-Experten Phillip Smyth prophezeien der Musikindustrie zahlungskräftige Naschid-Hörer abseits der Umma: „Nebenbei hört es sich auch noch gut an, selbst für einen Ungläubigen wie mich. Es versetzt einen in eine gewisse Stimmung.“

Der Artikel erschien unter dem Titel „Die Musik der Zukunft wird ein Hybrid sein“ zuerst in der aktuellen Ausgabe von Melodie & Rhythmus (1/2016)

Fotos: Lubliner Klezmorim (Henryk Kotowski; Lizenz: CC BY-SA 3.0); The New Orleans Jazz Vipers (Scott Myers; Lizenz: CC BY-SA 3.0)

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