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Wie ernst meint es Kurz mit der „Hilfe vor Ort“?

Österreichs Außenminister hält nicht, was er tausendfach verspricht – Entwicklungshilfe im Faktencheck von Max Aurel

Jetzt da Sebastian Kurz Spitzenkandidat und Parteivorsitzender der ÖVP ist, werden die Fragen nach seinem Programm lauter. In einem APA-Gespräch verriet er, dass er „Vorstellungen habe, aber noch kein konkretes Programm.“ Kurz ist in der Vergangenheit, auch auf Grund seiner Tätigkeit als Minister, nur durch die Themen Migration und Integration aufgefallen. Man muss kein Politikexperte sein um vorauszusehen, dass diese Themen auch die Agenda für die Neuwahlen bestimmen werden. Um der sogenannten „Flüchtlingskrise“ Herr zu werden schlug Kurz immer wieder vor, man solle „Hilfe vor Ort“ stärker finanziell fördern. Doch wie ernst meint es Kurz mit dieser Hilfe? Hat er (oder sein Ministerium) sich in den letzten Jahren als Streiter für mehr Entwicklungshilfe hervorgetan?

Das Kurzsche Mantra

Sebastian Kurz, 2017 (Foto: BMEIA/Dragan Tatic/flickr.com; Lizenz: CC BY 2.0

Kurz wiederholte den Satz „Wir müssen mehr Hilfe vor Ort schaffen“ in den letzten zwei Jahren beinahe mantraartig. Für alle, die nicht wissen, was ein Mantra ist: ein Mantra ist ein „heiliger Vers, der kontinuierlich wiederholt wird und eine große Bedeutung für die Gläubigen hat. Der Vergleich bei Kurz ist hierbei durchaus angebracht: „Hilfe vor Ort“ in Verbindung mit „Sebastian Kurz“ ergibt über 9.000 Ergebnisse bei Google, in den nationalen Medien hat er die Phrase in beinahe allen Interviews wiederholt, egal, ob der Interviewpartner von der APA, der Presse, der Kronen Zeitung oder vom Kurier stammte.

Man sollte also meinen, Kurz habe sich mit dieser „Hilfe vor Ort“ viel beschäftigt, habe Überlegungen angestellt, europäische Partner zu mehr Beitragszahlungen animiert oder ein umfassendes Entwicklungskonzept für den afrikanischen Kontinent vorgestellt. Doch bei näherer Betrachtung fällt auf, dass Kurz bei diesem Thema unglaublich schwammig und allgemein bleibt. „Hilfe vor Ort“ wurde in den zitierten Interviews kein einziges Mal näher definiert, der Leser oder die Leserin soll sich offensichtlich selber einen Reim daraus machen, was der Minister meint. Ist es Soforthilfe für den Libanon und Jordanien, die die überwiegende Mehrheit syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben? Sind es bilaterale Zahlungen zwischen Österreich und afrikanischen Staaten? Projekte zur Friedenssicherung in Nordafrika? Entwicklung einer wirtschaftlichen Infrastruktur in Sub-Sahara Afrika? Oder die indirekte Förderung der Raiffeisen Bank, so wie es der SPÖ-nahe „Kontrast Blog“ behauptet? Darüber lassen sich leider nur Mutmaßungen anstellen.

Österreich ist Flüchtlingshilfe Schlusslicht

Worüber sich keine Mutmaßungen anstellen lassen sind die nackten Zahlen, die ein Zeugnis über Kurz Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit liefern. Vor allem die finanziellen Beiträge zur bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit dienen als Vergleichswert zwischen Gesagtem und Aktionen. So ist das UNHCR die bei weitem bedeutendste internationale Organisation, wenn es um Flüchtlinge und Migration geht. Das UNHCR unterhält viele Flüchtlingslager selber, organisiert Hilfskonvois und sorgt dafür, dass die Hilfe bei den Vertriebenen auch ankommt. Im Jahr 2015 machte man dem UNHCR noch Zusagen, dass es von allen Geberländern 4,5 Milliarden US Dollar zur Verfügung gestellt bekomme. Angekommen ist davon knapp eine Milliarde US Dollar, viel zu wenig, wie das UNHCR meinte. Im Juni 2015 warnte es schon, dass es zu einem Exodus aus Syrien, Jordanien, der Türkei und dem Libanon kommen würde, sollten die Zahlungen nicht erhöht werden. Das Geld reiche nicht einmal mehr für Lebensmittelrationen. Nach Recherchen der Zeit war die ungenügende finanzielle Ausstattung der Hilfswerke ein Grund für die großen Fluchtbewegungen im Spätsommer 2015.

Wenn also eine Organisation für „Hilfe vor Ort“ steht, dann ist es das UNHCR. Man sollte also meinen, dass Minister Kurz seinen Worten auch Taten folgen lies und die Zahlungen an das UNHCR signifikant erhöhte. Doch die Realität ist beschämend. In den letzten fünf Jahren (2012-2017) hat Österreich 25 Millionen Euro an das UNHCR überwiesen, weniger als die Schweiz (welche eine vergleichbar große Bevölkerungszahl hat) in einem einzigen Jahr!

Quelle: UNHCR

 

Der Hauptspender sind nach wie vor die Vereinigten Staaten. Auch Donald Trumps Präsidentschaft hat daran kaum etwas geändert (die Beiträge von 2017 sind auf der Website des UNHCR verfügbar). Was sich ebenfalls kaum geändert hat, sind die österreichischen Zuwendungen pro Kopf. Nicht einmal einen Euro pro Kopf wendet die Regierung (vor allem aber das Außenministerium) auf, um den wichtigsten Träger internationaler Flüchtlingshilfe zu unterstützen. Deutschland, welches von Sebastian Kurz regelmäßig wegen seiner „Open-Border Politik“ kritisiert wird, hat seine Zahlungen an das UNHCR massiv erhöht. Von 2015 auf 2016 vergrößerte sich das deutsche UNHCR Budget um 350%. Beurteilt man nach diesen Zahlen, wer mehr für die „Hilfe vor Ort“ tut, dann wäre das nicht Sebastian Kurz und Österreich, sondern dessen Nachbarn, Deutschland und die Schweiz, welche schon vor der „Flüchtlingskrise“ 2015 die Beiträge an das UNHCR erhöht hat.

Quelle: UNHCR

Ähnlich beschämend sieht es bei den ODA (Official Development Assistance) Zahlungen seitens Österreich aus. ODA Zahlungen sind finanzielle Leistungen, die vom öffentlichen Sektor der Geberländer ausgehen. Damit werden Projekte finanziert, welche die Lebensbedingungen der Bewohner in den Empfängerländern verbessern sollen. Sie reduzieren sozusagen die sozioökonomischen „Push-Faktoren“, die Menschen dazu bringen, ihr Land zu verlassen und nach Europa aufzubrechen. Die OECD misst jedes Jahr, wie viel ODA Beiträge jedes Land zu Verfügung stellt. Als Ziel gibt die OECD 0,7% des Bruttonationaleinkommens vor, eine Quote, die nur wenige Länder erfüllen. Österreich gehört nicht dazu. Österreich hat die Quote seit 1960 nie erfüllen wollen, anders als die nordischen Länder, die Schweiz oder Deutschland, welches seit letztem Jahr die Quote erfüllt. Um das 0,7% Ziel zu erreichen, müsste Österreich seine Zuwendungen um das 2,44-Fache von 1,57 Milliarden auf 3,83 Milliarden USD erhöhen.

Quelle: OECD

Und es ist nicht so, dass Sebastian Kurz von diesem Problem nichts weiß. Seit 2013 ist die Erhöhung der österreichischen Beiträge zur Entwicklungshilfe Teil des Ausschusses für Entwicklungszusammenarbeit. Kurz selbst ist nicht Mitglied des Ausschusses, kann aber bei jeder Sitzung zur Konsultation hinzugezogen werden. Am 31.5.2017 gab es wieder eine Sitzung des Ausschusses, doch nach 4 Jahren in der Warteschleife kommt der Vorschlag zur Erhöhung der Beiträge immer noch nicht in einer Plenarsitzung des Nationalrates zur Debatte. Und sie sind nicht die einzigen Beiträge, die nur in den Ausschüssen behandelt werden. „Die österreichische Entwicklungszusammenarbeit endlich auf stabile Beine stellen„, „Aufstockung der Mittel humanitärer Hilfe und unbürokratische Soforthilfe im Katastrophenfall“ und „Erhöhung der finanziellen Unterstützung 2016 für das World Food Programme auf sechs Millionen Euro“ stecken seit 2014 bzw. 2016 in den Gremien fest. Würde Sebastian Kurz wirklich etwas daran liegen, „Hilfe vor Ort“ in größerer Quantität und Qualität bereitzustellen, hätte er sich für diese Anträge mehr einsetzen sollen.

Desinteresse

Neben den viel zu geringen Beiträgen, die Österreich den internationalen Organisationen und den Staaten in der Dritten Welt zur Verfügung stellt gibt es ein weiteres Anzeichen für akutes Desinteresse seitens des Außenministers. Es wirkt paradox: Kurz wiederholt sein „Hilfe vor Ort“-Mantra tagein tagaus, doch bei den Sitzungen der EU Gremien, die diese Themen behandeln, ist er abwesend. Laut dem Standard war er bei den EU-Treffen der Außenminister der Unterformation „Entwicklungszusammenarbeit“ im Jahr 2016 kein einziges Mal dabei. Stattdessen schickte er einen Stellvertreter, der allerdings kein Stimmrecht hat. Auch bei Treffen des EU Ministerrats für Allgemeine Angelegenheiten, denen er laut Aufgabenbeschreibung des Außenministers beiwohnen muss, war er selten anzutreffen. Lediglich bei 22 Prozent aller Sitzungen war er anwesend, während seine EU-Ministerkollegen im Durchschnitt 80 Prozent Anwesenheit vorzeigen konnten. Kurz Abwesenheit im Rat für Allgemeine Angelegenheiten ist dabei besonders verwerflich, stellt dieser doch eine der wichtigsten Institutionen im Gesetzgebungsprozess der EU dar.

Hilfe für Staaten, die die meisten Flüchtlinge beheimaten?

Österreich kann in Sachen Entwicklungszusammenarbeit die quantitativen Zusagen nicht einhalten, wie sieht es qualitativ aus? Bekommen Länder, die besonders unterentwickelt sind, aus denen viele AsylwerberInnen kommen und solche, die die Hauptlast der Flüchtlingsbewegung tragen müssen, mehr Geld? Grundlage dieser Auswertung sind Daten der OECD, und sie zeigt, dass die größten Empfänger österreichischer Entwicklungshilfe paradoxerweise europäische Staaten waren. So bekam Bosnien-Herzegowina 2016 mehr Geld als die acht Staaten, deren Bürger am meisten Asylanträge in Österreich gestellt haben (Afghanistan, Syrien, Irak, Pakistan, Iran, Nigeria, Russland, Somalia; Quelle: Asylstatistik 2016) zusammen.

Die Staaten, die laut UNHCR den meisten Flüchtlingen Unterschlupf bieten (Türkei, Pakistan, Libanon, Iran, Äthiopien und Jordanien) bekommen mit 46,7 Millionen USD angemessen viel Unterstützung. Aber nur auf den ersten Blick. 24 Millionen USD, mehr als die Hälfte, bekommt allein die Türkei, während der Libanon, welcher 1,1 Millionen Flüchtlinge beheimatet, aber wesentlich kleiner ist als die Türkei, mickrige 1,9 Millionen USD bekommt. Jordanien erhält sogar noch weniger, nämlich 0,8 Millionen USD. Zum Vergleich: Europäische Staaten, wie die vergleichsweise gut entwickelten Staaten wie Serbien, Bosnien-Herzegowina, Albanien oder der Kosovo, alles Staaten, die als „sichere Herkunftsländer“ definiert sind, bekommen mit 48,4 Millionen USD sogar ein wenig mehr.

Die Zahlungen an afrikanische Staaten südlich der Sahara, die die überwiegende Mehrheit der am wenigsten entwickelten Staaten der Welt stellen, sanken um 179,6 Millionen USD im Zeitraum von 2010 bis 2015. Und auch für die am wenigsten entwickelten Staaten als Staatengruppe (die sogenannten „LDC-Staaten), gab es innerhalb dieser 5 Jahre weniger Geld, nämlich 161,7 Millionen USD. Die österreichische Hilfe war im Jahr 2010 schon nicht sehr üppig, doch sie wurde noch weiter reduziert.

Profit ist wichtiger als die Bevölkerung

Nach welchen Kriterien wird also die österreichische Entwicklungshilfe vergeben? Wenn es nicht die Anzahl der versorgten Flüchtlinge, die Anzahl der Asylwerber oder der Entwicklungsstand des Landes ist, was dann? Die Website der Austrian Development Agency (ADA), welche die Entwicklungsgelder verwaltet, gibt Aufschluss. Dort ist die Rede von sogenannten „Wirtschaftspartnerschaften“ und die ADA gibt auch einige Beispiele für „erfolgreiche Partnerschaften“. So wurde ein Kaffeeprojekt in Äthiopien in Zusammenarbeit mit dem italienischen Kaffeekonzern Lavazza fertiggestellt. Kostenpunkt: 500.000 Euro, mehr als der gesamte Senegal im Jahr 2015 an Entwicklungshilfe bekam. Oder die Bereitstellung von Wetterstationen durch das Unternehmen „Pessl Instruments“ in Moldawien für 200.000 Euro. Als Entwicklungshilfe getarnt sieht es eher nach Förderungen österreichischer und europäischer Unternehmen aus. Die Abhängigkeit der Entwicklungsländer vom Export agrarischer Produkte wird dadurch auch nicht gebrochen, dafür werden die Lieferketten der Unternehmen gesichert, mit freundlicher Unterstützung durch den österreichischen Steuerzahler.

Selbst wenn all diese Projekte wirklich einen entscheidenden Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung der Länder beigetragen hätten, ist die Verteilung der Gelder merkwürdig. 47 Prozent aller Gelder betreffen wieder einmal nur europäische Länder, für den gesamten afrikanischen Kontinent sind nur 20% der Gelder verteilt worden, was bei einer Gesamtsumme von 4.4 Millionen Euro mickrige 880.000 Euro ausmacht. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, der den einheimischen Unternehmen wahrscheinlich mehr Vorteile bringt als der Bevölkerung der Entwicklungsstaaten.

Fazit

Die Hilfe, die Österreich zur Verfügung stellt, ist weder quantitativ noch qualitativ ausreichend. Die Höhe der Gelder, die von Österreich aus in die Entwicklungsländer fließen, sind viel zu niedrig und entsprechen in keiner Art den internationalen Standards und Ansprüchen. Die Art der Hilfe und die Auswahl der Empfänger lässt den Schluss zu, dass es Kurz nicht darum geht, bessere Lebensbedingungen in der Dritten Welt zu schaffen, sondern vor allem darum, Österreichs wirtschaftliche Interessen durchzusetzen und den Einfluss auf den Balkan zu behalten

Wenn es um „Hilfe vor Ort“ geht, gilt für Sebastian Kurz die Devise „Wein trinken, Wasser predigen.“ Er ist ein Meister darin, von anderen zu fordern, aber selber nicht dieselben Ansprüche an sich selbst zu haben. Seine Kritik an Deutschland und dessen Kanzlerin war völlig überzogen. Der Umstand, dass Deutschland seine Hilfen massiv erhöht stellt Kurz in seiner Scheinheiligkeit bloß.

Titelbild: Sebastian Kurz, OSZE-Vorsitzjahr Österreich, 2017 (Foto: BMEIA/Dragan Tatic/flickr.com; Lizenz: CC BY 2.0

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2 Gedanken zu „Wie ernst meint es Kurz mit der „Hilfe vor Ort“?

  • Danke für den wirklich sehr gut recherchierten Beitrag. Wein predigen und Wasser trinken ist auch bei anderen Fragen das Kurz’sche Mantra.

    Antwort
  • Robert Manoutschehri

    Schön zusammengefasste und interpretierte Statistiken. Und um es wirklich unmissverständlich auszudrücken: Gerade die Schwarzen Innen- und Außenminister (zumindest) des letzten Jahrzehnts sind diejenigen, welche jegliche „Vor-Ort-Hilfe“ nahezu abgeschafft haben – und gerade in Zeiten, wo ausreichende Finanzierung etwa des World Food Programmes für „sichere Lager“ in der nähren Umgebung der Krisenherde in Nahost gesorgt hätte, wurde diese von ein paar Staaten wie Österreich sogar noch weiter gekürzt. Dieselben Politiker und KURZdenker „wunderten“ sich dann aber über Flüchtende, die sogar bis zu uns nach Österreich und Deutschland kamen, um ihren Kindern in den unterfinanzierten Lagern nicht beim Verrecken zusehen zu müssen. Kurz und Konsorten sind also bei der Schuldfrage am „Flüchtlingsstrom“ sowie am Leid und Tot Tausender unmittelbar hinter den Kriegstreibern an zweiter Stelle einzuordnen !!! Wären wir der Rechtsstaat, der wir so gerne wären, würden sich ein paar Leute auf der Gerichtsbank wiederfinden anstelle der Regierungsbank …

    Antwort

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