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Atomschlag bei Alarm

Dr. Einsteins Mausefalle – Folge 4

Friedens-Kolumne von Gabriele Prohaska-Marchried

Ob die Panik auf Hawaii am 13. Jänner 2018 die Nebenwirkung hat, dass sich nun auch praktizierende Verdränger mit dem Thema Atomwaffen und ihrer Abschaffung beschäftigen? Glücklicherweise war es auf Hawaii nur ein Handyalarm – der liegt in der Verantwortung der einzelnen US-Bundesstaaten – kein Raketenalarm im System des strategischen Kommandos der USA (United States Strategic Command). Das hätte anders ausgehen können, über das Kriegsgeschrei von Trump und Kim Jong-un hinaus.

Was so gern verdrängt wird: Binnen weniger Minuten sind US-amerikanische und russische Interkontinentalraketen in Silos und auf U-Booten abschussbereit. Die höchste Alarmbereitschaft von US-Raketen bewirkt, dass Russland ebenfalls Atomraketen zum unmittelbaren Abschuss bereit hält und umgekehrt.

Informativ dazu John LaForge:

“High Alert“ oder “Hair-Trigger-Alert“, die Bereitschaft zum sofortigen Abschuss, ist ein Relikt des Kalten Krieges. Doch die Abschreckungsstrategen von USA und Russland brauchen diese Abschussbereitschaft von Atomwaffen für ihr launch-on-warning“: Bei Frühwarnung eines gegnerischen Angriffs wird der eigene Vergeltungsschlag noch vor dem gegnerischen Einschlag ausgeführt.

In Steven Starrs Einschätzung sind etwa 45 Prozent aller Atomwaffen von USA und Russland solchermaßen abschussbereit. Detaillierte Information ist von Hans M. Kristensen und Robert S. Norris im Newsletter der Atomic Scientists zu finden. Bei den USA sind die abschussbereiten Atomwaffen ungefähr gleich verteilt auf land- und seegestützte Raketen, in Russland vor allem auf landgestützte Raketen.

Gegen Interkontinentalraketen gibt es keine Verteidigung und landgestützte Interkontinentalraketen sind ein erstes Angriffsziel. Daher sollen sie abgefeuert werden bevor sie zerstört werden. Ihr Abschuss ist nicht rückrufbar, auch wenn es sich herausstellt, dass der Alarm ein Fehlalarm war. Von den landgestützten Interkontinentalraketen geht somit die größte Atomkriegsgefahr aus, warnen hochrangige ehemalige Militärstrategen wie Bill Perry und Bruce Blair. Sie fordern, diese Interkontinentalraketen ersatzlos abzubauen. Die Verteidigungsfähigkeit werde dadurch nicht geschmälert. Die bisherige Wirkung der Warnungen von Perry, Blair und anderen: null.

Wenn die Frühwarnung ein Fehlalarm ist, kann technisches Versagen, menschlicher Irrtum oder ein terroristischer Akt die Ursache sein. Von heranfliegenden Wildenten bis zur Reflexion von Sonnenstrahlen auf Wolken gab es bereits etliche Fehlalarme bei denen wir mit „Glück“ und dank aufrecht-kluger Offiziere wie Stanislaw Petrow gerade noch davongekommen sind. „Glück“ – im Sinn von „Schwein gehabt“ – als Sicherheitsgarantie gegen den nuklearen Overkill?

Apropos Overkill: Für Trump gibt es anscheinend nicht genug Overkill – laut NBC-News wollte er bereits die 10fache Menge des derzeitigen amerikanischen Arsenals. Die kürzlich vorgestellte “2018 Nuclear Posture Review“ (Bericht über die nukleare Lage, Transkript der Pressekonferenz auf der Homepage des U.S. Department of Defense, das eigentliche Dokument wird geheimgehalten) sieht u.a. zusätzliche Atombomben mit „geringer“ Sprengkraft vor („gering“ meint Zerstörungskapazität à la Hiroshima und Nagasaki), obwohl die USA bereits über 1000 Waffen mit derartiger Option haben.

Weiteres Wettrüsten, weitere Senkung der Atomkriegsschwelle. Angriff bei Alarm reicht den Dr. Strangeloves nicht, die 2018 Nuclear Posture Review höhlt das Tabu der Anwendung von Atomwaffen weiter aus, die Trump-Regierung droht, Atomwaffen als erster einzusetzen, um die „vitalen Interessen“ der USA, ihrer Verbündeten und Partner zu verteidigen. Die Opfer sind dann nicht mehr „vital“. (Mehr zur neuen Atomkriegsdoktrin der USA, der Kritik daran und Vorschläge zum Widerstand von Friedensgruppen in der nächsten Mausefalle.)

Zurück zum Thema Fehlalarm: Wenn in einer Zeit erhöhter Spannung auf einen Fehlalarm ein Atomschlag losgefeuert wird, wenn also „Vergeltung“ ohne Attacke ausgeübt wird – dann folgt der gegnerische Vergeltungsschlag und innerhalb einer Stunde sind die USA, Russland und Europa (wo die NATO mit erstschlagfähigen Waffen an Russland herangerückt ist) brennender atomarer Horror. Unsere Atomkriegsvorstellungen sind geprägt von Hiroshima und Nagasaki. Doch gegen den Horror von Atomschlag und Gegenschlag verblassen jene Schrecken.

Bis der Alarm zu einem Präsidenten gelangt ist, bleiben ihm maximal sechs Minuten Zeit zu entscheiden, ob das nukleare Arsenal abgeschossen werden soll, bei Alarm eines Raketenabschusses von U-Booten bleiben 1-2 Minuten. Die Zeit für ein Briefing des Präsidenten beträgt 30 Sekunden.. Was ist, wenn ein Präsident eine Entscheidung fällen muss, bevor die Situation vollständig geklärt ist? Im aufgeheizten Klima einer Krisenzeit steigt die Wahrscheinlichkeit eines Fehlschlusses.

Wegen der geringen Zeitspanne, die bleibt, um herauszufinden, ob es sich um einen Fehlalarm handelt oder nicht, wird immer mehr automatisiert, immer mehr vernetzten Computern überlassen – inklusive deren Fehleranfälligkeit. Wie das Risiko eines Atomkriegs aus Versehen steigt, hat eine Forschungsgruppe der UN analysiert.

Weil also das Risiko eines Atomkriegs aus Versehen im „launch-on-warning“-System mit der unmittelbaren „Gefechtsbereitschaft“ der Atomraketen verbunden ist, wurde – im Sinne der Abschreckungspolitik grauslich genug – von nichtstaatlichen Stellen die Strategie eines Vergeltungschlags erst nach dem tatsächlichen Einschlag gegnerischer Raketen (“launch after detonation“) vorgeschlagen.

Eine besondere Variante davon gibt es zusätzlich zum Alert-Status möglicherweise in Russland („möglicherweise“ wegen der dort gepflegten noch größeren Geheimhaltung): Von Zeit zu Zeit gibt es unbestätigte Meldungen, dass das System „Tote Hand“ aus dem Kalten Krieg noch in Betrieb ist: Nach einer Vernichtung Russlands durch einen Atomschlag würde ein System von Sensoren den Gegenschlag auslösen, selbst wenn niemand mehr am Leben ist, der den Gegenschlag anordnen kann.

Ein leicht durchzuführender erster Schritt, um einen Atomkrieg aus Versehen hintanzuhalten, ist jedenfalls “De-alerting“, das Aussetzen der unmittelbaren Abschussbereitschaft. Stufe 1 kann allerdings in 24 Stunden rückgängig gemacht werden.

Kritiker des “De-Alerting“ von Atomwaffen befürchten eine Minderung von Abschreckung und Kriegsführungsfähigkeit. Befürworter sehen in “De-Alerting“ eine dringend notwendige Überlebensmaßnahme. Darüber hinaus wäre es der Vertrauensbildung dienlich, um aus dem Teufelskreis der Vernichtungsandrohungen herauszukommen.

Nicht zu verkneifende Randbemerkung: Wenn ein nichtstaatlicher Akteur Vorkehrungen treffen würde wie die atomaren Supermächte und ihnen nacheifernde Staaten, würde er zumindest lebenslang in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher von der Öffentlichkeit ferngehalten werden.

De-Alerting“ wird gefordert in UNO-Resolutionen (die letzte diesbezügliche 2016), von der OSZE (Tbilisi Declaration 2016), von etlichen NGOs (nichtstaatlichen Organisationen) wie IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs), IALANA (Juristen), “World Beyond War“, “Abolition 2000“, ICAN und weiteren Friedensorganisationen mehr.

Das Beste und in jeder Hinsicht Wünschenswerte ist natürlich die Abschaffung der Atomwaffen. Am 7. Juli 2017 wurde in der Vollversammlung der Vereinten Nationen ein Abkommen zum Verbot von Atomwaffen angenommen. Das völkerrechtlich verbindliche Dokument tritt in Kraft, wenn 50 Staaten den Vertrag unterzeichnet haben. Bis dato (20.5.2018) taten dies 10 Länder: Österreich, Kuba, Guyana, der Vatikan, Mexiko, Palau, Palästina, Thailand, Venezuela und Vietnam (aktueller Stand siehe: treaties.un.org). Für jene Staaten, die ihn nicht ratifizieren, ist der Verbotsvertrag rechtlich nicht bindend – mit Rhetorik von vorgestern „modernisieren“ alle Atomstaaten ihr Arsenal… Doch die Annahme des Verbotsvertrags in der UNO ist der Ausdruck des Wunsches der meisten Länder dieser Erde, die apokalyptischen Waffen loszuwerden.

Bisherige Folgen von „Dr. Einsteins Mausefalle“:

Titelbild: Auch Hunde wären gegen Atomwaffen, wenn sie was zu sagen hätten. (Foto: Gabriele Prohaska-Marchried)

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