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Gewerkschaften, Wirtschaftswachstum und Klimakrise: Warum mehr Kapitalismuskritik gefragt wäre

Während im Kapitalismus das Streben nach maximalem Profit die Triebfeder und Motivation für neue Produkte und Dienstleistungen darstellt, könnte man stattdessen demokratisch entscheiden, was für ein „gutes Leben“ tatsächlich benötigt wird.

Von Heinz Högelsberger (Abteilung Umwelt und Verkehr der AK Wien)

Im Rahmen des Kapitalismus eint der Drang nach Wirtschaftswachstum die Unternehmen und die Gewerkschaften. Für das Kapital führt der Weg zur Profitmaximierung über die Expansion. Die Gewerkschaften streben Wachstum an, um trotz Rationalisierung und Produktivitätssteigerungen Arbeitsplätze zu erhalten. Es ist damit leichter, von einem größer werdenden Kuchen der Wirtschaft ein zusätzliches Stück abzubekommen. Mit diesem Credo für Wachstum kämpfen die Gewerkschaften de facto auch für die Gewinnmaximierung der Unternehmen. Da es fraglich ist, ob eine BIP-Erhöhung bei gleichzeitiger Einsparung von Rohstoffen und Energie überhaupt möglich ist, stehen in dieser Systemlogik Arbeitsplätze und Umweltschutz häufig in einem Widerspruch.

Das Ende einer Erfolgsgeschichte

Diese Politik erwies sich in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit als durchaus segensreich. Weil Arbeit eine knappe Ware war, verbesserte sich der Lebensstandard der Beschäftigten in Ländern wie Österreich enorm. Zwei Faktoren bremsen inzwischen diese Erfolgsgeschichte: Erstens wurde immer offensichtlicher, dass es planetarische Grenzen gibt und der stets wachsende Rohstoff- und Energieverbrauch die Ökosysteme der Erde zum Kippen bringen wird. Zweitens setzte sich – speziell nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten – die neoliberale Ideologie und die damit verbundene Umverteilung von unten nach oben durch.

Treibhausgase und Lohnquote – zwei gegenläufige Trends

In folgender Tabelle ist in Rot die Lohnquote in Österreich aufgetragen. Diese Quote gibt den Anteil der Löhne und Gehälter am gesamtwirtschaftlichen Einkommen an und ist somit ein guter Indikator für die Verteilung zwischen Arbeit und Kapital. Zu berücksichtigen ist, dass hohe Arbeitslosenzahlen, aber auch Scheinselbstständige die Lohnquote drücken. Im Jahr 1978 erreichte sie einen historischen Höchstwert von 77,2 Prozent, um dann innerhalb von drei Jahrzehnten auf rund 63 Prozent (2007) abzusacken und bis 2017 wieder leicht anzusteigen. Logischerweise spiegelbildlich entwickelte sich der Anteil an Gewinn- und Vermögenseinkommen. Laut Thomas Piketty wachsen seit Jahrzehnten weltweit die Renditen und Vermögen schneller als die Wirtschaft, sodass das Sinken der Lohnquote die zwangsläufige Folge ist. Ein drastisches Beispiel dafür liefert Amazon: Während für dessen Chef das Vermögen während der Corona-Krise auf 146,6 Milliarden US-Dollar (Stand Mitte Mai 2020) gestiegen ist, wurde es in den Amazon-Verteilzentren unter erbärmlichen und vielfach illegalen Arbeitsbedingungen erwirtschaftet.

Österreich ist völkerrechtlich verpflichtet, seine Treibhausgas-Emissionen – ausgehend vom Niveau des Jahres 1990 – drastisch zu senken. So sah das Kyoto-Ziel vor, dass der Ausstoß von Klimagasen von 1990 bis zu der Zeitspanne 2008–2012 um 13 Prozent sinken sollte (hellblaue Punkte). Die dunkelblaue Linie in der Grafik zeigt zweierlei: Einerseits hat Österreich in Bezug auf Klimaschutz versagt und auf dem Weg zu einer vollständigen Dekarbonisierung 30 wertvolle Jahre verloren. Auf der anderen Seite haben Österreichs Beschäftigte nicht von dieser Umweltverschmutzung profitieren können. Die Entwicklung der Emissionen von Treibhausgasen und der Lohnquote verlief in den vergangenen Jahrzehnten gegenläufig. Der vermehrte CO2-Ausstoß hat offensichtlich hauptsächlich die Profite gesteigert.

Die Klima- und die Corona-Krise

Neben dieser empirischen Evidenz gibt es zwei weitere Gründe, warum Gewerkschaften ihre langjährige Politik überdenken sollten. Einerseits werden die Auswirkungen der Klimakrise immer offensichtlicher, sodass mittelfristig auch die Lebensqualität und Zukunftschancen der Beschäftigten und ihrer Kinder auf dem Spiel stehen. Zweitens wird es nach der Corona-Pandemie länger dauern, bis die Wirtschaft wieder das Vorkrisenniveau erreicht hat. Eine Um- und Neuverteilung von Arbeit und Reichtum ist also ein Gebot der Stunde; der bisherige Wachstumspfad ist vorläufig nicht begehbar. Da erscheint es nur mehr skurril, wenn der neue Präsident der Industriellenvereinigung Georg Knill anlässlich seiner Wahl „Wachstum, Wachstum, Wachstum“ predigt.

Drei Handlungsoptionen für Gewerkschaften

Die Gewerkschaften haben in dieser Situation drei Handlungsmöglichkeiten bzw. eine Kombination aus ihnen:

  1. Sie können versuchen, sich aus dem stagnierenden bzw. schrumpfenden „Wirtschaftskuchen“ ein größeres Stück für ihre Mitglieder herauszuschneiden, sodass das Einkommen für die Beschäftigten in etwa gleich bleibt. Man könnte aber auch durch eine spürbare Besteuerung von Vermögen die Renditen „älterer Kuchen“ abschöpfen und damit den Sozialstaat ausbauen. Diese „klassenkämpferische“ Umverteilung von Kapital zu den Beschäftigten ist aber eine Frage der Machtverhältnisse und der Konfliktbereitschaft seitens der Gewerkschaften.
  2. Diese können auch Wohlstand und Lebensstandard für ihre Mitglieder neu diskutieren und definieren; weg vom umweltverbrauchenden Dogma von möglichst hohem Konsum und dem Wunsch nach einem dicken Auto. Dabei kann ein weiterentwickelter Sozialstaat mit umfassender Daseinsvorsorge den Wachstumsdruck abfedern. Denn: Bei guter Öffi-Anbindung benötigt man kein Geld für ein Auto. Gibt es leistbare Mietwohnungen, muss man nicht für ein Eigenheim sparen usw. Auch Konzepte von Arbeitszeitverkürzung und „Zeitwohlstand“ können da helfen. Gerade während der Corona-Krise wurde vielen bewusst, welche Produkte und Dienstleistungen tatsächlich notwendig und wichtig sind. Auch der Umstieg auf einen „hochwertigeren“ Konsum geht in diese Richtung. Wenn beispielsweise eine Qualitätswaschmaschine dreimal so viel kostet wie ein Billigprodukt, aber dafür fünfmal so lange hält, so spart dies den Konsument*innen Geld und geht zulasten der Profite.
  3. Eine weitere Aufgabe wäre die Angleichung der Gehälter. Die Glücksforschung hat festgestellt, dass Lebenszufriedenheit mit dem Einkommen bis zu einer gewissen Höhe ansteigt, dann aber stagniert. Sobald alle grundlegenden Bedürfnisse und Zukunftssorgen (leistbarer Wohnraum, Alters- und Gesundheitsversorgung, Ausbildung der Kinder usw.) abgedeckt sind, macht zusätzliches Geld nicht glücklicher, sondern verführt nur zu umweltschädlichem Konsum. So verursacht das reichste Zehntel aller britischen Haushalte dreimal mehr Treibhausgasemissionen als das ärmste Zehntel; bei den Verkehrsemissionen erhöht sich dieser Faktor auf 7 bis 8. Es gibt also keinen logischen Grund für überschießende Einkommen. Das bedeutet für Gewerkschaften auch andere Prioritäten bei Kollektivvertragsverhandlungen: z. B. Sockelbeträge statt prozentueller Lohnerhöhungen. Der Mediziner Wilkinson hat mit einer Vielzahl an Daten gezeigt, dass egalitäre Gesellschaften gesünder sind, eine höhere Lebenserwartung haben und auch die Kriminalität geringer ist. Diese Faktoren hängen zusammen: So lebt eine reiche Schwedin gesünder und stressfreier als ein reicher Brasilianer. Ebenso ist erwiesen, dass in gerechteren Gesellschaften der Umweltverbrauch geringer ist. Sind die Lebensstandards ähnlich, gibt es weniger Gründe, mit Statussymbolen die Eliten nachzuahmen. Es wäre also eine allgemeine und spürbare Arbeitszeitverkürzung (z. B. auf 30 Wochenstunden) anzustreben, die aber bei den Gutverdienern durchaus ohne Lohnausgleich erfolgen könnte.

Kapitalismuskritik ist angesagt

Für die Gewerkschaften wären all diese Richtungsentscheidungen einfacher, wenn sie die Erkenntnis beherzigen würden, wonach der Kapitalismus gleichermaßen von der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und der Natur profitiert. Damit werden aus den bisherigen Gegnern Arbeitsplatz und Umweltschutz Verbündete gegen einen gemeinsamen Feind. Während im Kapitalismus das Streben nach maximalem Profit die Triebfeder und Motivation für neue Produkte und Dienstleistungen darstellt, könnte man stattdessen demokratisch entscheiden, was für ein „gutes Leben“ tatsächlich benötigt wird. So versucht auch die AK mit ihrem alljährlichen Wohlstandsbericht aufzuzeigen, dass Wohlbefinden von vielen Faktoren abhängig ist; auch jenseits der Anzahl an Konsumgütern.

Dabei stellt sich automatisch auch die Eigentumsfrage von Unternehmen. Es geht nämlich auch darum, welche Produkte und Dienstleistungen unter welchen Bedingungen erzeugt werden. SUVs, Wochenend-Flugreisen, Wegwerf-T-Shirts und Billigfleisch wären dann sicher nicht mehr prioritär.

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