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Vom Versagen der Wissenschaft

Obwohl die Wissenschaft nicht den Anspruch hat, ethische Fragen zu beantworten, hat sie doch gewisse ethische Verpflichtungen, die besonders seit Beginn der Pandemie sträflich vernachlässigt wurden.

Ein Gastbeitrag von Dr. Ulrich Müller

Ich bin Wissenschaftler und orientiere mich bei wissenschaftlichen Fragestellungen an dem Prinzip von Verifikation und Falsifikation von Hypothesen. Wie Sir Karl Popper lehne ich den relativistischen Forschungsansatz ab. Er ist praktikabel und in vielen Disziplinen anwendbar, dennoch liefert er keine befriedigende Erklärung für ein Phänomen. Ich will ein schlüssiges Modell, um mir eine eigene Vorstellung von der Wirklichkeit machen zu können. Ich akzeptiere die für viele irritierende Tatsache, dass wissenschaftliche Ergebnisse niemals vollständig und endgültig sein können, schon gar nicht, wenn viele Untersuchungen noch laufen.

Der nachfolgende Text ist größtenteils meinem neuen Roman „Das Tragen der Bürde“ entnommen. Nach einer intensiven Wissenschaftsdiskussion mit meinem ehemaligen Kollegen habe die entsprechenden Romanteile zu einem wissenschaftlichen Pamphlet umgearbeitet.

Wissenschaftliche Verantwortung und Politik

Wissenschaft hat ihren wichtigen Platz in der Gesellschaft, aber nicht die Führung, denn sie wurde nicht gewählt. Gewählt wurden unsere Volksvertreter_innen. Sie tragen die Verantwortung. Sind für die Allgemeinheit Entscheidungen zu treffen, so kommt der Wissenschaft neben Recht und Ethik lediglich beratende Funktion zu.

Die Wissenschaft hat ihre Kompetenzen heute weit überschritten. Weil eine Handlungsweise wissenschaftlich vernünftig erscheint, bedeutet dies noch lange nicht, dass dieser Weg ohne gesellschaftlichen Diskurs und demokratischen Beschluss beschritten werden darf. Das Grundprinzip der Demokratie lautet: Jede_r erhält nur eine Stimme, gleichgültig wie klug oder reich. Verlassen wir diesen Pfad, dann endet die Menschheitsgeschichte in Chaos und Anarchie.

Zu behaupten, ein offener Wissenschaftsdiskurs würde die Bevölkerung verunsichern, ist pure Polemik und in diesem Zusammenhang verwerflich. Deutlich größere Verunsicherung erzeugt man mit dem, was man derzeit weithin praktiziert. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (Ingeborg Bachmann)! Die Dinge sind längst nicht so kompliziert, als dass sie ausschließlich von Wissenschafter_innen verstanden werden können und diskutiert werden dürfen. Die Wissenschaft hätte neben einer zurückhaltend beratenden Funktion vielmehr die Aufgabe, die Bevölkerung aufzuklären und einen fairen öffentlichen Diskurs zu initiieren und zu unterstützen. Dass sie dazu nicht in der Lage ist, haben verschiedene Vertreter_innen der Wissenschaftsdisziplin in beschämender Art und Weise unter Beweis gestellt, denn derzeit gelingt es nicht einmal, eine würdige Diskussion innerhalb der eigenen Fachrichtung zu führen.

Je gefährlicher eine Sache ist, desto besonnener sollten man mit ihr und miteinander umgehen. Ein würdiger wissenschaftlicher Diskurs findet auf Augenhöhe, quasi auf einem Schachbrett und nicht auf der Blutwiese statt. Wie die Demokratie hält auch die Wissenschaft solche Kämpfe aus. Das Heilen der Wunden braucht nur etwas Geduld. Je tiefer die Schrammen, desto länger müssen wir warten, bis die Dinge wieder ins Lot kommen.

Vorschnelle Annahmen, erste Hypothesen, unzählige Studien, Ergebnisse und Schlussfolgerungen werden ohne zu hinterfragen als Wahrheit verkauft. Auf der einen Seite gibt man offen zu, vieles nicht zu wissen. Auf der anderen Seite begründet man sein Tun durch Glauben. Vor der Aufklärung hat der Mensch geglaubt, jetzt glaubt er zu wissen, und derzeit sind wir offenbar wieder auf dem besten Wege, uns wieder ganz aufs Glauben zu verlegen.

Aktuell werden unzählige Studien durchgeführt. Dabei wird vielfach auf die Definition einer Hypothese verzichtet, die die Grundlage jeder wissenschaftlichen Fragestellung darstellen sollte. Das Ergebnis eines relativistischen Forschungsansatzes liefert kein Modell, sondern nur Handlungsempfehlungen. Damit können zwar lenkende Maßnahmen getroffen, aber diese nicht erklärt werden. Das verursacht Widerstand und Kopfzerbrechen bei Menschen mit Defiziten im Bereich Obrigkeitsgläubigkeit. Das Mittragen von nötigen Maßnahmen über alle Bevölkerungsschichten hinweg wird damit verspielt. Sehr viele Zusammenhänge kann man mit dem derzeitig vorhandenen Stand des Wissens im Sinne eines in sich schlüssigen wissenschaftlichen Modells nicht oder noch nicht erklären. Im Falle der aktuellen Pandemie tappen wir vielfach noch immer im Dunkeln, auch die Wissenschaft. Wer das Gegenteil behauptet, sucht nicht nach Erkenntnis, sondern bastelt sich nur seine eigene Wirklichkeit.

Wenn wir die Wissenschaft für tiefgreifende politischen Entscheidungen in die Pflicht nehmen, dann bitte auf Basis belastbarer wissenschaftlicher Theorien und nicht auf wackligen Provisorien.

Was ist Wissenschaft?

Wenn wir von der Wissenschaft Erkenntnis fordern, dann ist es auch notwendig zu verstehen, was Wissenschaft ist und kann.

Ein korrekter wissenschaftlicher Prozess beginnt mit einer intelligent gestellten Frage. Das erfordert Neugierde, Fantasie und Kreativität. Diese Frage transformiert man in eine Hypothese, eine Annahme. Dann fragt man sich, wie man diese überprüfen könnte. Man entwickelt folglich einen Versuchsaufbau als Überprüfungsmöglichkeit. Dieser Schritt erfordert größtmögliche Sorgfalt, um Fehlinterpretationen und Scheinkorrelationen zu verhindern. Dann wird gemessen, Ergebnisse gesammelt und analysiert. Und wie gesagt, mit der kritischen Analyse lässt sich die Hypothese bestätigen oder ablehnen. Und damit ist man in der Lage, eine Schlussfolgerung zu formulieren. Wir generieren ein Modell.

Alles was neu ist, daher auch jedes wissenschaftliche Ergebnis, stellt eine Störung der bestehenden Ordnung dar. Doch mit der Zeit folgt dem Störenfried ein weiterer und dann noch einer. Der Mensch ist daher gezwungen, eine neue Ordnung zu schaffen. Gut eingebettet in die veränderte Architektur, finden dann Fouriers mathematischer Ansatz plötzlich seine Anwendung. Damals, 1822, hat sich kein Mensch für die sogenannte Fouriertransformation interessiert. Doch die moderne Computertechnik und der gesamte Bereich der Telekommunikation würden ohne diesen Ansatz nicht funktionieren. Ohne den alten Fourier hätten wir im wahrsten Sinne des Wortes Sendepause.

Damit ist Folgendes klar: Wissenschaft erfordert Eingebung, Hingabe, Geduld und Energie, aber vor allem Unabhängigkeit! Diejenigen, die glauben, dass man die Nutzbarmachung von wissenschaftlichen Ergebnissen zeitgebunden einfordern darf oder kann, haben nicht verstanden, worum es geht. Dotierung und Finanzierung sind weder Garanten noch Qualitätskriterium. Die Bereitschaft, Wissenschaft zu finanzieren, belegt nur, welche Fragen und vielleicht auch vorweggenommenen Antworten die Geldgeber haben. Finanziers mit eindeutigen Hintergedanken sind die schlimmsten Feinde einer unabhängigen Wissenschaft.

Damit die Begeisterung bei der Wissenschaft nicht mit uns durchgeht, gibt es Regeln, die angewendet werden müssen. Damit würde ich zusammenfassend sagen: Wissenschaft ist der stets unvollkommene Versuch, das Unerklärliche provisorisch und dennoch belastbar, einem logisch-schlüssigen Regelwerk folgend, erklärlich zu machen! Diese Definition folgt Poppers Wissenschaftstheorie: Bestätigung und Widerlegung einer Hypothese zur Erstellung eines Modells. Das ist zugegeben nicht viel und dennoch, wenn man es genau betrachtet, unfassbar viel.

Über die Wahrheit und Beständigkeit sagt dieses Modell übrigens gar nichts aus. Ein Modell ist ein Provisorium. Popper sagt: Man kann die absolute Wahrheit besitzen, aber man kann nie sicher wissen, dass man sie erreicht hat. Deshalb muss man immer damit rechnen, dass der andere recht hat und man selber unrecht. Die Wissenschaft erhebt folglich nie den Anspruch, vollständig wahr zu sein. Wie alles ist auch in der Wissenschaft nichts für die Ewigkeit gebaut, denn sie ist vom Menschen gemacht und hat daher Lücken und Fehler. Ergebnisse und Modelle gelten nur so lange, bis neue, vielleicht bessere, umfassendere gefunden werden, mit denen das Unerklärliche noch umfassender und besser erklärt werden kann. Vermutlich schreien Sie mir jetzt entgegen: „Aber es gibt doch Naturgesetze, die wir in verlässliche Formeln und Modelle gegossen haben!“ Ihr Einwand in Ehren, doch geht er ins Leere. Letztlich ist in der Wissenschaft nichts unumstößlich. Sie lebt.

Resümee

Auf einer Party gewinnt man, vorausgesetzt man amüsiert sich, keine Erkenntnis. Die muss man sich leider in Phasen tiefer Krisen erarbeiten. Für die Feststellung, der Mensch brauche Erkenntnis, um zukünftige Herausforderungen zu bewältigen, werden keine Hypothesen und Modelle benötigt. Im Jahr 1972 gab der Club of Rome seinen ersten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ heraus. Seitdem ist jeder im Bilde: Der gewählte Weg ist eine Sackgasse.

Durch die unmittelbare Verfügbarkeit von Information im digitalen Zeitalter erwarten wir auf alles sofort eine Antwort zu erhalten. Die einen lassen sich dazu hinreißen, dieses Bedürfnis zu befriedigen, indem sie vorzugeben zu wissen. Die anderen wollen lieber glauben, als auf eine fundierte Antwort zu warten. Warum diese Ungeduld? Die Realität lässt sich doch nicht überholen! Es läuft gerade ein Krimi, und wir kennen das Drehbuch nicht. Jeder hat seine Theorien. Die besten Chancen, den Ausgang zu erraten, hat der, der aufpasst und nicht der, der vorschnell Mutmaßungen anstellt.

Durch die aktuelle Situation bin ich im doppelten Sinn betroffen: Einerseits, weil es mich betrifft, andererseits weil es mich erschüttert. Erschüttert bin ich über den zwischenmenschlichen Umgang, der hier um sich greift. Im öffentlichen Leben und im beruflichen Umfeld sind die Spielregeln noch einigermaßen klar definiert. Im Vertrauen auf die Rechtsstaatlichkeit haben wir derzeit noch funktionierende Normen, doch Vorsicht, die Eisdecke, auf der wir gehen, ist brüchig geworden. Im privaten Umfeld ist durch den Riss, der durch die Gesellschaft geht, schon viel zu viel zerbrochen. Die Standpunkte klaffen weit auseinander. Sie sind zu einem integralen Teil des jeweiligen Weltbilds geworden. Ich weigere mich aber, meine Entscheidung für oder gegen einen Menschen alleine von seiner Sicht auf die Dinge abhängig zu machen.

Haben wir nicht in den letzten 75 Jahren gelernt, dass Konfliktlösung anders besser funktioniert? Woher plötzlich diese Intoleranz? Nur weil ich die Frage nicht verstanden habe, ist mein Gegenüber weder dumm noch böse. Denunziation ist in jede Richtung abzulehnen. Für diesen verkommenen Zustand der Gesellschaft trägt die Politik den größten Teil der Verantwortung. Sie hat das Klima für diese Kultur geschaffen und sie hat das Vertrauen in staatliche Institutionen schwer beschädigt. Heute sind sich viele nicht mehr sicher, ob wir uns auf den Staat überhaupt noch verlassen können und wollen. Damit kommt vieles ins Wanken.

Fairness und Nüchternheit sind Gebote der Stunde. Zeiten, in denen Wissenschaft, Medien und Politik Allianzen schmieden, sind immer brandgefährlich. Wissenschaft braucht Offenheit, Fairness und Transparenz. Bei den Medien folge ich Poppers Forderung nach einem Eid, der sie hindert, Unwahrheiten, Relativismus, Nihilismus, intellektuelle Verzweiflung oder die Auffassung zu verbreiten, wir lebten in einer bösen Welt. Und die Politik muss wieder einer strengeren Kontrolle unterliegen. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind Werte, an denen nicht gerüttelt werden darf.

Gleichgültig, ob Virus oder Klima, die Freiheit des Einzelnen ist gegen die vermeintliche Sicherheit für alle abzuwägen. Diese schwierige Frage kann nur in einem offenen Dialog und fairen wissenschaftlichen Diskurs geklärt werden. Diesen Prozess durch wie auch immer ernannte Autoritäten abzukürzen schadet nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Gesellschaft.


Ulrich Müller, 1967 in Graz geboren, studierte Forst- und Holzwirtschaft, arbeitete als Tischler, war als Techniker in einem Möbelwerk tätig, bevor er an der Universität für Bodenkultur Wien eine wissenschaftliche Karriere begann. Ulrich Müller lebt in Wien, ist verheiratet und Vater einer erwachsenen Tochter.

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Titelbild: Konstantin Kolosov auf Pixabay 

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