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Opfer und Täterinnen

Paula Bulling / Anne König: Bruchlinien. Drei Episoden zum NSU: Der Comic- und Interviewband beleuchtet kritisch die Aufarbeitung des NSU-Komplexes und macht durch verschiedene Perspektiven ihre Mängel sichtbar. – Sonntag ist Büchertag

Von Rebekah Manlove (kritisch-lesen.de)

Buchcover
Bulling/König – Bruchlinien. Drei Episoden zum NSU (Spector Books)

Eine junge Frau mit Kindern, die sich über ein Geschenk ihrer Freundin freut. Eine ehemalige Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes, die von einem früheren Kollegen besucht wird. Mutter und Tochter, die telefonisch zu einer Demo nach Kassel eingeladen werden. Es sind Frauen, die einander nicht persönlich kennen und völlig verschiedene Leben führen, in Zwickau, Daun und Dortmund. Was haben sie also miteinander zu tun? Die ersten beiden Frauen sind mitverantwortlich für den Mord am Ehemann und Vater der letzten beiden. Die Frau, die sich in der ersten Episode um eine blinde Dame kümmert, ist Susann Eminger. Ihre Freundin, die sie aus Dankbarkeit für ihre Hilfe mit einem viertägigen Trip nach Disneyland überrascht, ist Beate Zschäpe. Anders als ihr Mann André Eminger stand Susann bisher nicht vor Gericht, obwohl sie Beate Zschäpe im Untergrund mehrfach ihre Papiere überließ und ihr damit eine Tarnidentität verschaffte. Auch für die Aufrechterhaltung des bürgerlichen Images des Trios in Zwickau war Susann Eminger mitverantwortlich. Sie ist offen und überzeugt rechtsextrem. Wieso sie für ihre Unterstützung des NSU bisher anscheinend keine Konsequenzen erlebt hat, ist eine der Fragen, die die Autorinnen des Buches beschäftigt.

Enttäuschender Prozess in München

In der zweiten Hälfte des Buches, optisch durch etwas dunkleres Papier von der ersten abgegrenzt, finden sich Interviews und Gespräche mit Personen, die sich beruflich und privat mit dem NSU beschäftigen. Durchgeführt zwischen 2018 und 2019 geben sie einen Einblick in verschiedene Perspektiven auf die bisherige Aufarbeitung des NSU-Komplexes, sowohl juristisch als auch gesellschaftlich, und den Umgang mit den Opfern. Für Hintergrundwissen zu dem Prozess vor dem Oberlandgericht München dient insbesondere das Interview mit Sebastian Scharmer, Nebenklagevertreter von Gamze Kubaşık und ihrem Bruder Ergün. Sie ist die Tochter von Mehmet Kubaşık, der 2006 vom NSU ermordet wurde, und die Protagonistin der dritten Comic Episode. Comic und Interview ergänzen sich dabei gut, denn im einen wird die Empathielosigkeit des Richters bei der Verhandlung gezeigt, im anderen weiter ausgeführt. Der Prozess in München unterliegt in allen Beiträgen Kritik. Da ist zum einen die Einschätzung, dass der Richter sich gegenüber der Situation der Neonazis empathischer zeigte als gegenüber den Angehörigen ihrer Opfer. Dann ist da die von vornherein festgelegte Trio-These des Gerichts, die es schwierig machte, die Taten des NSU aufzuklären und das gesamte Netzwerk dahinter zur Verantwortung zu ziehen. Zuletzt haben dann noch die meisten Angeklagten ein geringes Strafmaß erhalten. Insbesondere im Fall von André Eminger, der für seine essenzielle logistische Unterstützung des Kerntrios nur zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde, stieß auf breites Unverständnis und Enttäuschung. Sowohl Emingers Verteidigung als auch der Generalbundesanwalt haben Revision eingelegt, der im August 2021 stattgegeben wurde. Emingers Fall ist damit momentan der einzige, bei dem es in absehbarer Zukunft zu einer erneuten Verhandlung kommen wird.

Abendessen statt Anti-Rassismus

Besonders eindrücklich ist das Interview mit Candan Özer-Yılmaz. Sie spricht offen über ihre Frustration und Verzweiflung. Ihr Ehemann wurde beim Anschlag auf die Keupstraße schwer verletzt und zutiefst traumatisiert. Selbst nach der Enttarnung des NSU erhielt er nicht die notwendige therapeutische Unterstützung, um sein Leben wieder selbstbestimmt führen zu können. Stattdessen wurde die Familie zum symbolischen Abendessen bei der Kanzlerin eingeladen. Candans Wut über die Behandlung ihres Mannes, über die ständige Erniedrigung durch die deutschen Behörden und deren systematischen Rassismus, wird deutlich. In letzterem sieht sie auch den Grund dafür, dass es nicht zu umfangreicheren Ermittlungen und härteren Strafen gegen die Täter*innen oder gar zu einer Verhinderung ihrer Taten kam: „Das passiert nicht, weil der Nazi da draußen irgendwas anzündet. Das passiert, wenn ein Rassist da oben sitzt.“ (S. 72)

Wenngleich sie optisch ansprechend sind: Ohne jegliches Vorwissen zum NSU-Komplex sind die Comics möglicherweise schwierig zu verstehen. Trotzdem gelingt es ihnen, in den einzelnen Episoden jeweils eine eigene Atmosphäre zu kreieren und die Grundfragen, die den NSU-Komplex begleiten, aufzugreifen. Eine besondere Stärke des Buches ist die Vielfalt der darin versammelten Perspektiven, die einander gut ergänzen und dass es auch kritische Stimmen einbezieht. Weshalb der NSU nicht verhindert oder früher beendet wurde, weshalb die Strafen für die Täter*innen nicht härter ausfielen und wieso die Trio-These so vehement verteidigt wird, lässt sich vielleicht nicht abschließend beantworten, aber es werden verschiedene Ansätze dafür vorgestellt. Das, sowie die überschaubare Länge des Buches (95 Seiten) und sein eher ungewöhnlicher Stil machen es damit zu einer guten Ergänzung der bestehenden Literatur zum NSU-Komplex.


Paula Bulling / Anne König: Bruchlinien. Drei Episoden zum NSU.
Spector Books – 2019, 95 Seiten
ISBN: 978-3-95905-298-6.

Dieser Beitrag wurde am 12.10.2021 auf kritisch-lesen.deKooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer_innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.

Titelbild: Unsere Zeitung/Collage

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