Geschichte

Das letzte Mahl

Die »Henkersmahlzeit« wird noch heute Todeskandidaten in vielen US-Gefängnissen als letztes Friedensangebot und Besänftigungsritual gewährt. Der Delinquent darf sich noch einmal ein Essen wünschen – was immer er mag.

Von Helmut Ortner

Auch wenn es irritierend anmutet, der Hinrichtung eines Delinquenten ging von Seiten der Obrigkeit immer auch eine sorgfältig geplante Vorbereitung auf dessen bevorstehenden Tod voraus. Ziel der Obrigkeit war eine würdevolle und zugleich abschreckende Hinrichtung, die zwar Mitleid für den Delinquenten erlaubte, aber jede Sympathie unterband, und die den Scharfrichter zum Symbol des gesetzestreuen Rächers erhob. Eine für alle Beteiligten verbindliche Dramaturgie war notwendig, damit die Würde des Gerichts ebenso wenig in Frage gestellt wurde wie die Abschreckungsfunktion des Hinrichtungs-Zeremoniells.

Dazu gehörte, die mit dem Geständnis errungene Einwilligung des Delinquenten nach Urteilsverkündung aufrechtzuerhalten und durch allerlei Gunstbezeugungen des Gerichts zu stärken. So konnte ihm für die letzten drei Tage im Gefängnis eine bessere Unterkunft gewährt werden, auch konnte ihm erlaubt werden, neue – mitunter selbstgewählte – Kleidung zu tragen. Vor allem erhielt der Verurteilte besseres Essen und ausreichend zu Trinken. Denn: »Mahl und Trinken gehören zur glücklichen Hinrichtung und zum christlichen Tod, wie die Bereitschaft zu sterben, das Geschick des Scharfrichters und die Versicherung des armen Sünders, dass er niemand grolle«.

Besonders das letzte Mahl, das dem Verurteilten vor der Hinrichtung gewährt wurde, diente dazu, dem Delinquenten das Sterben zu erleichtern und seine Einwilligung zur Hinrichtung abermals zu festigen. Dazu diente auch die Mahlzeit, die kurz vor dem Tod gereicht wurde. Sie war das eigentliche, das klassische Henkersmahl. Es trug einen besonderen Charakter, weil es dem Gefangenen eine erhebliche – letzte – Freiheit zugestand. Es symbolisierte die Umkehrung aller Herrschaftsverhältnisse, wenn der Hilfloseste der Hilflosen, der Gefangene vor dem Tode, Macht erhielt, den Speisezettel der Henkersmahlzeit selbst zu bestimmen. Wie in Rom Herr und Sklave, so tauschten in vielen Ländern Staat und Todgeweihter für kurze Zeit die Rollen. Die Henkersmahlzeit schloss so Frieden zwischen dem Gericht und dem Delinquenten, also auch zwischen dem Henker und dem Todeskandidaten.

Akt der Versöhnung oder Beigabe zum nahen Tod?

Die Sitte des Henkersmahls lässt sich bis in den Ausgang den 14. Jahrhundert verfolgen. Kriminalhistoriker führen Belege an, wonach es in Ägypten als Bestätigung des Todesurteils galt, wenn der König dem armen Sünder Leckerbissen und Speisen von seiner Tafel erlaubte. Die alten Juden kannten die Henkersmahlzeit in Gestalt eines betäubenden Trankes, der vor der Hinrichtung gereicht wurde. Neben den Berichten aus alter Zeit beweisen Aufzeichnungen aus asiatischen Ländern, dass unser Henkersmahl nicht christlichen Wurzeln entspringt. In Persien wurden alle Wünsche des armen Sünders, was Essen und Trinken angeht, in großzügiger Weise erfüllt. Über Zeiten, Religionen und Kulturen hinweg blieb das Henkersmahl also ein Ritual der Versöhnung und des Friedensschlusses. Bis heute hat sich dieser Ritus erhalten. Er wurde aus früheren, roheren Zeiten übernommen und beibehalten.

Aber ist es tatsächlich ein Akt der Versöhnung? Gibt man dem Delinquenten wenige Stunden vor seiner Hinrichtung mit der Henkersmahlzeit wirklich noch einmal Würde und Selbstbestimmung zurück? Handelt es sich tatsächlich um einen Friedensakt mit dem Täter oder einzig um ein Besänftigungsritual für die Lebenden? In dem Ritual der Henkersmahlzeit, wie es beispielsweise in den amerikanischen Gefängnissen noch heute praktiziert wird, überlebt diese Furcht vor der Wiederkehr einer zürnenden Seele. Der Weg zur Pforte des Todes führt deshalb noch für eine kurze Zeit durchs Schlaraffenland, um jenen »seelischen Zustand herzustellen, den der arme Sünder in die Geisterwelt mitnehmen« soll. Nicht umsonst errichten amerikanische Gefängnisse in der Zeit vor der Hinrichtung eine Art Übergangsraum zwischen Leben und Tod, der mit der Kargheit des Gefängnisalltags nicht mehr viel zu tun hat. Der so genannte Todestrakt, in den die Häftlinge verlegt werden, ist nämlich nicht, wie man vielleicht denken könnte, noch schmuckloser als die gewöhnlichen Zellen, sondern ein Ort der Entspannung: bessere Bettwäsche, gepflegtere Kleidung und eben auch eine letzte luxuriöse Mahlzeit. Schmeicheln will man mit diesen Vorzügen aber nicht mehr dem lebendigen Körper des Delinquenten, sondern schon seiner unsterblichen Seele. Die Henkersmahlzeit ist eine zu Lebzeiten verabreichte Grab-Beigabe.

Helmut Orter – Ohne Gnade. Eine Geschichte der Todesstrafe (nomen-Verlag)

Durch die Bestellung und den Verzehr seiner Lieblingsspeise signalisiert der Delinquent sein Einverständnis mit dem Kommenden; er spielt gewissermaßen mit und autorisiert seinen bevorstehenden Tod. Was geschieht dagegen, wenn die Henkersmahlzeit verweigert wird, wenn sich ein «Missklang in die Erbaulichkeit der Prozedur« mischt? Offensichtlich geht vom leeren Magen des Gefangenen etwas Beunruhigendes und Unversöhnliches aus. Dass ausgezehrte Körper dem Strafsystem Schwierigkeiten bereiten, weiß man seit den großen Hungerstreik-Aktionen der IRA oder der RAF. So gefährlich schienen sie für die Ordnung des Gefängnisses zu sein, dass man in vielen Fällen zu Zwangsernährungs-Maßnahmen greifen musste (im Spektrum der Gefängniskost der absolute Gegenpol zur Henkersmahlzeit).

Doch was macht den hungernden Körper des Delinquenten so bedrohlich? Er schließt keinen Frieden mit seinen Richtern, verweigert die Unterzeichnung des eigenen Urteils. Von den Hungerstreikenden weiß man, dass sie immer wieder zu Märtyrern wurden, sich von Tätern in Opfer zu verwandeln drohten. Eine solche Entwicklung muss das Gefängnis mit aller Macht unterbinden. Die Henkersmahlzeit gehört zu den wirksamen Instrumenten, um ein letztes Auflehnen des Delinquenten abzufedern. Auch wenn Alkohol als Beigabe nicht mehr erlaubt ist, soll sie ihn auf dem Weg in den Tod ein wenig »anästhesieren«.

Eine letzte Zigarette und Alkohol wird verwehrt

Der Journalist Andreas Bernhard dokumentierte einmal eine Liste des Texas Department of Criminal Justice, auf der alle »letzten Gerichte« der in Texas hingerichteten Delinquenten aufgeführt wurden (die Liste umfasste die Zeit vom 7. Dezember 1982 bis zum 12. Juli 2000, insgesamt 224 Personen, die in diesem Zeitraum durch eine Giftspritze in der Strafanstalt Huntsville hingerichtet wurden). Die Liste konnte im Internet eingesehen werden. Die Frage nach dem Lieblingsgericht, von Boulevardblättern ansonsten gerne Prominenten gestellt, wurde der Öffentlichkeit nun in neuer Lesart serviert. Von den Eigenheiten des Geschmackssinns erhofft man sich Auskünfte über die Identität des Menschen. In diesem Fall über die texanischen Todeskandidaten.

In einem Interview sagte der Gefängniskoch von Huntsville, der vermutlich die meisten der auf dieser Liste aufgeführten Gerichte zubereitete: »Ich glaube, das sind Speisen, mit denen die Verurteilten schöne Erinnerungen aus ihrer Jugend verbinden.« Gab es Besonderheiten, die auf dieser Liste zu erkennen waren? Zunächst die unerwartete Gleichförmigkeit der Menüs. Burger, Steak oder Chicken: diese drei Gerichte machten weit mehr als die Hälfte aller Bestellungen aus. Dass sich die Delinquenten noch einmal eine der typischen amerikanischen Mahlzeiten wünschten, weist vermutlich tatsächlich auf jene frühen Erinnerungen hin, die sie mit diesem Essen verbinden, genauso wie die Todeskandidaten südamerikanischer Herkunft fast ausnahmslos Speisen wie Tacos, Enchiladas oder Fajitas bestellten.

Das überraschend schmale Spektrum der Henkersmahlzeiten hatte aber auch einen verwaltungstechnischen Grund, wie Bernhard mutmaßte. In den letzten Jahren hatten die amerikanischen Gefängnisse nach und nach die freie Wahl der Speisen eingeschränkt. Machten sich um 1900 die Delinquenten noch einen letzten Spaß daraus, möglichst Abseitiges und Luxuriöses in Auftrag zu geben, um die Gefängnisverwaltung gewissermaßen zum irdischen Finale noch einmal herauszufordern, gab es in Huntsville dagegen nur das, was in der Küche zur Verfügung stand. Sogar eine Bestellung wie „Shrimps mit Salat“ (Pedro Muniz, hingerichtet am 19.05.1998), wurde zurückgewiesen, weil keine Meeresfrüchte vorrätig waren. Die Henkersmahlzeit, als unreglementierter Ausbruch aus der Ordnung der Gefängniskost, gibt es nicht mehr. Alkoholische Getränke sind ohnehin seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1976 verboten. Der Todeskandidat soll in vollem Bewusstsein seinem Schicksal entgegengeführt werden, ungetrübt von den beruhigenden Wirkungen des Alkohols. Selbst der traditionelle Wunsch nach einer »letzten Zigarette«, jahrhundertelang Sinnbild für die ablaufende Lebenszeit des Delinquenten, wird mittlerweile verwehrt.

Doch es sind nicht in erster Linie die Einschränkungen, die den Leser bei der Lektüre der Liste berühren; es ist eher die Genauigkeit der Bestellungen. Denn die Akribie, mit der die Delinquenten Menge und Zubereitungsart ihrer Wünsche beschreiben, steht in merkwürdigem Gegensatz zu der Unausweichlichkeit ihres Schicksals.

„Vier bis fünf Spiegeleier“ (Noble Mays, hingerichtet am 06.04.1995), „Peperoni-Pizza, mittelgroß“ (Richard Brimage, Jr., 12.03.1997), „gebratenes Huhn, nur weißes Fleisch“ (Richard Foster, 24.05.2000), „zehn Quesadillas, fünf gefüllt mit Mozzarella, fünf gefüllt mit Cheddar“ (Jessy San Migule, 29.06.2000) …

Dass die Gefangenen in der Verzweiflung über den bevorstehenden Tod noch die Kraft zu diesen Graden an Differenzierung aufbringen, hat auf den ersten Blick etwas Unverhältnismäßiges. Als wäre es noch von Belang, dass das Steak unbedingt »rare« zubereitet wird (Robert Drew, 02.08.1994). Doch vielleicht liegt in dieser letzten Erlaubnis zur exakten Differenzierung auch etwas beruhigend Persönliches: so kurz vor dem Tod noch einmal die Möglichkeit zu bekommen, eine Eigenheit, eine besondere Vorliebe herauszustreichen. Manche Bestellungen geben deshalb sogar die Anordnung der Mahlzeit auf dem Teller vor: das Dressing zum Salat soll separat serviert werden (James Clayton, 24.05.2000), die geschmolzene Butter zu den Honigsemmeln nicht auf dem Gebäck, sondern daneben (Orien Joyner, 12.07.2000).

Irritierend auch die Bestellungen jener Delinquenten, die am Vorabend des Todes noch Maß halten und auf ihren Körper achten. Ronald O’Bryan etwa, hingerichtet am 31.03.1984, verlangt Süßstoff statt Zucker zu seinem Tee, Kenneth Dunn (10.08.1999) ein „Diet Cream Soda“, und Cornelius Goss (23.02.2000) möchte sogar nichts weiter als »einen Apfel, eine Orange, eine Banane, eine Kokosnuss und Pfirsiche«. Noch die unwiderruflich letzte Mahlzeit scheint auf ihren zukünftigen Nutzen hin ausgerichtet zu sein, auf Fitness und Gesundheit. Keine letzte Feier der Lüste, sondern die Wahrung eines diätetischen Programms. So als käme es auf den möglichst ökonomischen Umgang mit dem eigenen Körper zu diesem Zeitpunkt noch an.

Ob Gemüse oder Fleisch, ob Schmalkost oder üppige Portion: Das letzte Mahl wird so neben dem Zellenwechsel sowie der großzügigen Gewährung von Besuchen der Angehörigen, Verwandten und Freunde als letztes Friedensangebot und Besänftigungsritual gewährt. Der Delinquent darf sich noch einmal zu essen wünschen, was immer er mag, so viel er will. »Ein paradoxes Privileg«, nennt das der Philosoph Wolfram Eilenberger. »Noch bevor die Nahrung verdaut ist, wird das Leben ausgelöscht sein. Um den Erhalt der Körperfunktionen kann es bei diesem Ritual also nicht gehen, viel eher um eine karnevaleske Distanzierung von der erahnten Unwürdigkeit des Geschehens. Ein gefangener Mensch ohne Recht auf die nackte Existenz wird in den letzten Stunden seines Lebens in den Stand königlicher Wahlfreiheit gehoben.«

Inzwischen bekommen Todeskandidaten wie beispielsweise in Texas an ihrem letzten Tag dasselbe Essen, wie alle anderen Mitinsassen.  Auch in anderen Bundesstaaten der USA gibt es mittlerweile bestimmte Regeln für den letzten kulinarischen Wunsch. So darf in Florida die Bestellung maximal 40 Dollar kosten. In Oklahoma müssen die Todeskandidaten sogar nur mit 15 Dollar auskommen. Alkohol und Zigaretten sind ohnehin tabu. Etwa ein Zehntel der Todeskandidaten verzichten ohnehin auf  die Bestellung einer Mahlzeit und lass den sich nüchtern auf die Pritsche im Injektionsraum führen.  Sie verweigern nicht eine letzte Nahrungsaufnahme. Sie verweigerten ein letztes Friedensangebot.


Buch-Tipp:
Helmut Ortner: OHNE GNADE – Eine Geschichte der  Todesstrafe
Nomen Verlag,  230 Seiten, 22 Euro

Titelbild: Metallgeschirr für die Henkersmahlzeit (17./18.Jhdt.), Paneum (Brotmuseum, Asten); Foto: Wolfgang Sauber; Lizenz: CC BY-SA 4.0


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