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Über entblößte Genitalien und die atomare Bedrohung

Was haben ein obszöner Vorfall zwischen einem US-Präsidenten und einem Journalisten und die atomare Bedrohung miteinander zu tun?

Von anonym

Es ist gewissermaßen ein offenes Geheimnis, dass der ehemalige US-amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson häufig sehr gerne auf die Größe seines Geschlechtsteils verwiesen hat, welches er wohl – den Erzählungen nach zu urteilen – oft “Jumbo“ nannte. Es gab einen Vorfall, bei welchem Johnson von einem Journalisten gefragt wurde, wie er die Fortführung des Vietnamkrieges rechtfertigen könne. Daraufhin bat Johnson alle anwesenden Frauen aus den Raum zu gehen, entblößte sein Geschlechtsorgan und antwortete: „Genau deshalb!“

Man kann diese Geschichte selbstverständlich als eine amüsante Anekdote oder Albernheit bei Seite schieben. Andererseits kann man sich jedoch auch dazu entschließen, jenes Vorkommnis, welches angeblich zwischen Johnson und dem Journalisten stattfand, mit dem Maß an Ernsthaftigkeit zu analysieren, die ihm gebührt. Bietet das Beispiel zwischen Johnson und dem Journalisten nicht eine wunderbare Metaphorik für die derzeitige weltpolitische Lage, in welcher wir uns befinden? Für Johnson war klar, dass er beweisen musste (um es mit dem in diesem Kontext angemessenen Maß an Obszönität auszudrücken), dass er „den Längeren“ hat – ungeachtet der zahlreichen Tode, welche der Vietnamkrieg gefordert hat (es musste ja immerhin die vom Nordvietnam ausgehende kommunistische Bedrohung im Zaum gehalten werden).

Auch heute erleben wir zahlreiche Autokraten, welche der Welt zeigen wollen, warum Sie nicht verlieren können. Von Xi Jinping, Bolsonaro bis hin – wohl derzeit am offensichtlichsten – Waldimir Putin. Niemand möchte als Verlierer dastehen – ein gefährliches Spiel mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Menschheit.

Das böse Erwachen

Die von Putin jüngst angeordnete Teilmobilmachung hat wieder längst vergessen geglaubte Ängste vor einem dritten Weltkrieg sowie der damit zusammenhängenden atomaren Bedrohung auf die Tagesordnung gerufen und damit auch die Frage danach, wie weit die Unterstützung der Ukraine durch weitere Waffenlieferungen gehen soll. Zurecht wurde in den letzten Monaten (und wird) viel über die eklatant steigenden Energiepreise diskutiert – nicht zuletzt weil sich nicht wenige Menschen mit realen Existenzängsten konfrontiert sehen. Aber auch unwichtige Sommerloch-Debatten haben uns heimgesucht, wie beispielsweise ob Layla oder Winnetou verboten werden sollten oder nicht (wobei – entgegen einiger medial weit verbreiteter Annahmen – nichts von beiden je verboten wurde). Gewissermaßen erinnerten einige der letzten Wochen an bestimmte Aspekte der Corona-Pandemie.

Während die Pandemie noch das politische Hauptthema darstellte, ist während der Sommermonate bei vielen von uns wieder der naive Optimismus aufgekeimt, dass das Virus möglicherweise nicht mehr in einer derart drastischen Form zurückkehren wird. Wir haben uns der Illusion des scheinbar Normalen hingegeben, während auf einer unterbewussten Ebene jedoch klar war, dass das Virus nicht verschwunden ist – bis wir dann vom zweiten Lockdown “überrascht“ wurden.

Der psychologische Grundmechanismus, welcher dafür sorgt, dass unsere unterbewussten Besorgnisse nicht ins Bewusstsein katapultiert werden – anders formuliert: dass wir uns nicht eingestehen wollten, dass das Virus zurückkommt, wohl wissend, dass dies sehr wahrscheinlich ist – lässt sich zunächst relativ leicht erklären: Denn das Selbstverständliche hat etwas Erhabenes und Schönes. Es bringt Struktur, Transparenz und (scheinbare) Sicherheit in unser alltägliches Leben. Es vermittelt uns die wohltuende Illusion des Sicheren und Planbaren. Krisen wie die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine zeigen jedoch auch, dass unsere alltäglichen Sicherheiten und Planbarkeiten auf falschen Hypothesen beruhen können. Das Normale – und damit das Selbstverständliche – waren also so gesehen nie da, sondern immer relativ zu den temporären Rahmenbedingungen, welche unser Großexperiment menschlichen Lebens definieren und eingrenzen.

Ein gefährliches Schach der Hypothesen

Im Hinblick auf die Frage nach mehr Waffenlieferungen in die Ukraine haben sich gewissermaßen zwei konträre Überzeugungen herausgebildet, welche auch in den gesellschaftlichen Debatten für ein zunehmendes Maß an Polarisierung sorgen.

Die eine Seite behauptet, dass wir die ukrainische Seite weiter unterstützen müssen, da – wenn der Westen aufhört, Waffen an die Ukraine zu liefern – Putin sich ermächtigt fühlen wird, bald ins Baltikum einzumarschieren und dann auch bei uns vor der Tür steht.

Die Gegenseite justifiziert ihre eigene Ansicht interessanterweise mit der gleichen Argumentation: Wenn wir Putin weiter provozieren und immer mehr Waffen in ein Kriegsgebiet liefern, werden nicht nur in zunehmendem Maße Menschen sterben (was natürlich stimmt – man beachte die Erfahrungen in Syrien, im Jemen, in Afghanistan etc.), sondern darüber hinaus könnte Putin sich auf eine nicht hinnehmbare Art und Weise provoziert fühlen und in der Folge sähen wir uns der realen Gefahr eines atomaren Konflikts ausgesetzt.

Was beide Positionen eint, ist gewissermaßen der Umstand, dass jede Seite für sich deklariert, darüber im Wissen zu sein, wie Putin und seine Riege im Kreml wirklich psychologisch funktionieren. Noch interessanter ist eigentlich, dass beide Seiten dasselbe Ziel verfolgen: Sie möchten, dass Russland aus der Ukraine zieht und das Töten aufhört.

Der Dissens, der beide Seiten jedoch voneinander trennt, ist, was die geeigneten Mittel zu diesem Ziel sind. Während die eine Seite behauptet, dass Putin die Angst vor der atomaren Bedrohung bewusst nutzt, um andere Länder davon abzuhalten die Ukraine zu unterstützen, behauptet die Gegenseite, dass man letztendlich nicht wissen kann, wie Putin und sein Herrschaftsregiment handeln werden, wenn Sie sich in die Ecke gedrängt sehen. Es sollte hier nicht darum gehen, sich für eine der beiden Positionen explizit auszusprechen. Was das zuvor Dargelegte lediglich verdeutlichen soll, ist, durch wie viel (unvermeidbares) Nichtwissen die ganze Debatte eigentlich geprägt ist.

Dieses Nichtwissen – welches beide Positionen eint – anzuerkennen, scheint eines der wichtigsten Gebote der Stunde. Nicht zuletzt, da wir uns alle durch eine atomare Bedrohung konfrontiert sehen, welche Putin kombiniert mit seinen zahllosen völkerrechtswidrigen Tabubrüchen fortwährend argumentativ instrumentalisiert.

Die Atombombe – die moderne Form der Entfremdung?

Erich Fromm hat einst treffend darauf aufmerksam gemacht – um zu einer derzeit vorherrschenden Angst zurückzukehren – inwiefern die Erfindung der Atombombe selbst eine der größten Entfremdungserscheinungen der menschlichen Zivilisation darstellt:

Ein äußerst dramatisches und grauenhaftes Symbol dessen, was Entfremdung ist, sind die Atomwaffen. Sie sind das Werk des Menschen. Sie sind der Ausdruck seiner größten intellektuellen Leistungen, und doch beherrschen uns die atomaren Waffen. Es ist inzwischen sehr fraglich geworden, ob wir sie noch beherrschen. Wir, die lebendigen Menschen, die leben wollen, werden zu ohnmächtigen, omnipotenten Menschen. Wir glauben zu herrschen und werden doch beherrscht – nicht von einem Tyrannen, sondern von den Dingen, von den Umständen. […] Wir reden von Fortschritt und Zukunft, obwohl in Wirklichkeit keiner weiß, wohin er geht, und niemand sagt, wohin es geht, und keiner ein Ziel hat.

Fromm macht hier auf eine Paradoxie aufmerksam, welche als konstitutiv für das menschliche Dasein betrachtet werden kann, indem er darauf hinweist, dass es gerade die höchsten intellektuellen Fähigkeiten der Menschen sind, welche zugleich für Erfindungen verantwortlich sein können, welche die Existenz der gesamten Menschheit bedrohen.

Während Marx noch davon ausging, dass sich die Entfremdung des Menschen konkret dadurch äußert, dass der Mensch im Arbeitsprozess die Entäußerung seiner eigenen Existenz erfährt, indem dieser sich in seinem Arbeitsprodukt nicht mehr wiedererkennt – oder konkreter: indem dieser sein Arbeitsprodukt als etwas ihm gegenüber Fremdes erlebt –, stellt für Fromm die Atombombe die ultimative Form der Entfremdung des menschlichen Daseins dar. Diese Form der Entfremdung äußert sich konkret dadurch, dass die Atombombe den Menschen dazu in die Lage versetzt omnipotent zu sein (da diese sprichwörtlich dazu in der Lage ist, den gesamten Planeten zu zerstören).

Gerade diese Omnipotenz geht jedoch mit einer unabwendbaren Form der Ohnmacht einher, da Staaten durch die Existenz von Atomwaffen zwar eine ungeheure Form der Macht ausüben können, indem sie einfach darauf hinweisen, dass sie über diese verfügen (man denke an Putins unverhohlene Drohungen sowie die daraus resultierenden Ängste). Auf der anderen Seite erzeugen Atomwaffen jedoch eine Form der Ohnmacht, da sie uns als etwas Fremdes und Übermächtiges gegenüberstehen, vor welchem sich kein Mensch – ungeachtet der intellektuellen und physischen Stärke – schützen kann.

Damit sind Atombomben nicht nur die wohl deutlichste Form der Entfremdung des menschlichen Daseins, sondern auch die Symbolisierung dessen, was man als die Vereinigung des Höchsten und Niedrigsten betrachten könnte: Entstanden aus den höchsten intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, schafft es die Atombombe dennoch die niedrigsten Instinkte des Menschen zu mobilisieren und damit die Gefahr zu erhöhen, dass alles, was die Menschheit je erschaffen hat, samt ihrer intellektuellen und kulturellen Errungenschaften, zu zerstören.

Wenn Fromm von der Omnipotenz spricht, welche die Atombombe dem Menschen verleiht, lässt sich dies – metaphorisch betrachtet – ebenso auf das zu Beginn erwähnte Beispiel mit Johnson anwenden. Die Zurschaustellung der eigenen Potenz – in Form von martialischer kriegerischer Überlegenheit – ist letztendlich das, was uns alle in die Ohnmacht treiben kann.

Gibt es eine Möglichkeit sich von der Herrschaft durch jene niederen Instinkte – und damit von der Herrschaft durch die Atombombe – zu befreien? Anders formuliert: Lässt sich diese Form der zivilisatorischen Entfremdung auf irgendeine Art überwinden?

Um diese Frage zu beantworten, lässt sich ein anderes Beispiel heranführen. Jüngst wurde Sahra Wagenknecht heftig für ihre Behauptung kritisiert, dass wir einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen Russland gestartet hätten, welcher unserer eigenen Bevölkerung mehr schaden würde als Russland. Auch wenn ich bei weitem nicht mit allem einverstanden bin, was Sahra Wagenknecht sagt, ist die Empörung gegenüber ihrer Behauptung doch mehr als erstaunlich (hatte Robert Habeck nicht vor einigen Wochen auch behauptet, dass wir uns in einem Wirtschaftskrieg befänden und wurde dafür weit weniger kritisiert?).

Begründet (selbst in persönlichen Gesprächen wurde mir diese Position oft auf diese Art und Weise dargestellt) wurde die Kritik oft damit, dass eine derartige Aussage suggerieren würde, dass nicht Putin, sondern der Westen den Krieg gestartet hätte. Diese Kritik ist natürlich argumentativ insofern als schwach einzustufen als hier bewusst zwei Ebenen miteinander verwechselt werden: ein Krieg auf militärischer und ein Krieg auf wirtschaftlicher Ebene.

Dass Putin den Krieg auf militärischer Ebene gestartet hat, sollte außer Frage stehen. Dass der Westen jedoch mit den (nicht ungerechtfertigten!) Wirtschaftssanktionen begonnen hat, steht ebenfalls außer Frage. Es ist gerade jedoch mehr denn je – nicht zuletzt aufgrund des enormen Gefahrenpotenzials, welches dieser Konflikt birgt – wichtig, dass wir uns nicht als determinierte Handlungssubjekte begreifen, für welche es nur die eine richtige (als unabwendbar zu betrachtende) Handlung gibt. Dies hat zur Konsequenz, dass es auch in unserer Macht liegt, alles dafür zu tun, die sich anbahnende Eskalationsspirale nicht weiter zu befördern und dass wir all den Ukrainern und Russen versuchen sollten zu beweisen, dass wir im kohärenten Einklang mit den von uns im Westen postulierten Werten handeln.

Wie könnte dies aussehen? Nicht zuletzt, indem wir sowohl all die Ukrainer aufnehmen, welche vor der Brutalität und dem Elend des Krieges fliehen als auch all jene Russen, welche nun fliehen und nicht für Putins Herrschaftsregiment kämpfen möchten. Möchte der Westen seine Werte auf globaler Ebene authentisch verkörpern, ist dies unabdingbar. Darüber hinaus sollten wir zudem alle Geflüchteten aufnehmen, welche ebenfalls als ein Produkt westlicher Waffenlieferungen entstanden sind.


Dieser Beitrag erschien zuerst am 15.10.2022 im Debatten-Magazin „The European“.

Titelbild: Gerd Altmann auf Pixabay 

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