AktuellInternational

Jenseits der Ausbeutung

Was, wenn das Geld nicht zum Leben reicht und kapitalistisches Wirtschaften den Lohn für die menschliche Arbeitskraft bis zur Schmerzgrenze drückt?

Von Tobias Kullmann (kritisch-lesen.de)

Buchcover
Jania Puder: Akkumulation – Überausbeutung – Migration (Campus Verlag)

Wie unfair kann Arbeit sein? Das Ausbeutungsverhältnis im vermeintlich fairen Tausch Arbeit gegen Lohn ist in der marxistischen Tradition längst bekannt. In kapitalistischen Verhältnissen erfolgt die Aneignung von Mehrwert durch die Kapitalist:innen im sogenannten Äquivalententausch, der gar nicht äquivalent ist. Den Arbeiter:innen wird nur der Wert gezahlt, der zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft vonnöten ist, nicht der tatsächliche Wert, den sie im Arbeitsprozess geschaffen haben. Möglichst lang soll der Arbeitstag sein. Möglichst hoch die Produktivität, um die Ausbeutung zu maximieren.

Doch wann werden die Grenzen der Ausbeutung überschritten? Und welche außerökonomischen Umstände konstituieren Überausbeutungsverhältnisse? Diese Thematik untersucht Janina Puder in ihrem Buch „Akkumulation – Überausbeutung – Migration. Arbeit im malaysischen Palmöl-Industriellen-Komplex“. Ausgehend vom zentralen Gedanken von Äquivalententausch und Mehrwertproduktion, gelingt es der Autorin, das Konzept der Überausbeutung von Arbeiter:innen theoretisch zu erfassen, welches sie empirisch am Fallbeispiel migrantischer Palmölarbeiter:innen in Malaysia aufarbeitet und systematisiert. Puder verknüpft ausbeutungstheoretische Grundlagen und darauf aufbauende Adaptionen (u.a. Rosa Luxemburg, David Harvey, Klaus Dörre) mit weltsystemtheoretischen Ansätzen. Neben den ökonomischen Bedingungen berücksichtigt sie außerökonomische Faktoren, die die kapitalistische Überausbeutung bedingen. Dabei benennt sie als zentralen nicht-ökonomischen Akteur den Staat, der mit (Il-)Legalisierungsmaßnahmen disziplinierend auf migrantische Arbeiter:innen wirkt und für die Überausbeutung konstitutiv ist.

Indem sie fundamentale Strukturkategorien der Klasse wie auch intersektionale Strukturkategorien Ethnie und Geschlecht inkorporiert, geht sie über die marxsche Überausbeutungsidee hinaus und erarbeitet auf empirischer Basis detailliert und eindrücklich die Arbeitsbedingungen migrantischer Arbeiter:innen, die die Merkmale der Überausbeutung plausibel machen. Empirisch wird diese laut Puder auf mehreren Ebenen manifest, so etwa in der Übernutzung der Arbeitskraft, der Unterkompensation der verausgabten Arbeitskraft, der Marginalisierung von Arbeiter:innen und der sektorspezifischen ökonomischen Logik der Palmölplantagenarbeit.

Die intersektionalen Stützen der kapitalistischen Expansion

So sehr man sich beim Lesen manchmal die Quantifizierung eines Grenzwertes von Überausbeutung wünscht, so sehr zeigt die Autorin uns, dass es einer fallspezifischen Untersuchung der nicht-ökonomischen Faktoren – also der staatlichen Migrations- und Arbeitsmarktpolitik, der betrieblichen und sektoralen Arbeitsverhältnisse und vor allem der Reproduktionsverhältnisse – zur Identifizierung von Überausbeutung bedarf.

Nicht-ökonomische Aspekte sind laut Puder wesentlich für die Strukturierung von (Re-)Produktionsverhältnissen: So ist es die staatliche Einwanderungspolitik Malaysias, die Arbeiter:innen aus anderen Ländern nach Bedarf anwirbt und abschiebt und damit Staatsangehörigkeit zu einem Abgrenzungsmerkmal der einheimischen Arbeiter:innen erhebt. Indem die Einwanderung vom Arbeitsstatus abhängig gemacht wird, ist die Legalität des Aufenthalts immer an das Arbeitsverhältnis geknüpft, was den Familiennachzug erschwert. Die bereits schlecht bezahlten Arbeiter:innen tragen die Verantwortung zur Versorgung eines transnationalen Familienhaushalts, der Rücküberweisungen ins Herkunftsland notwendig macht. Darüber hinaus verwahren die Palmölbetreiber:innen oftmals die Pässe der migrantischen Arbeitskräfte, wodurch diese illegalisiert und sozialräumlich isoliert werden. Praktiken wie diese erzeugen nicht nur Familien, deren Lebensmittelpunkt die Plantage bildet, sondern auch überarbeitete und unterbezahlte Arbeiter:innen zwischen Lohn- und Subsistenzarbeit. Die euphemistische Bezeichnung der Arbeitsmigration als Triple-Win, von dem Migrant:innen, Entsendeländer und Einwanderungsländer profitieren, verliert in Anbetracht der ethnischen Unterdrückungsmechanismen zur Forcierung von Überausbeutung seinen Glanz.

Ihre starke historische Aufarbeitung des malaysischen Arbeitsmigrationsregimes ruft nach einem intersektionalen Ansatz; und eben diesen liefert Puder. Die Autorin positioniert sich in der Intersektionalitätsdebatte auf Seiten marxistischer Vertreter:innen und argumentiert, dass die Kategorie Klasse im Epizentrum der Ungleichheitsverhältnisse steht. Die antagonistische Klassenbeziehung der kapitalistischen Ausbeutung wird Puder zufolge durch die ethnische Zugehörigkeit ko-strukturiert, sodass sich migrantische Palmölarbeiter:innen als subalterne Klasse herausbilden.

Puder enthält sich jedoch einer endgültigen Einschätzung zu Ursache und Wirkung von ethnischer oder geschlechterbasierter Unterdrückung für die kapitalistische Akkumulation und bespricht die Geschlechterdimension der Intersektionalität nur oberflächlich. Kritisch kann dies in zweierlei Hinsicht gesehen werden: Einerseits wird die für den Kapitalismus konstitutive weibliche Unterdrückung vernachlässigt. Anderseits liegt der Fokus ihres Intersektionalitätsansatzes auf der ethnischen Unterdrückung, obwohl ihre Empirie durchaus Geschlechterunterschiede in der Arbeitshierarchie sichtbar macht. So gehen Frauen Tätigkeiten nach, die in den 3D Jobs (dirty, dangerous, degrading) hierarchisch noch weiter unten angesiedelt sind.

Forschungsheuristik mit offener Stelle

Die Stärken der Arbeit liegen vor allem, in der Aufarbeitung der theoretischen Fundierung, ohne dabei in einen marxistischen Reduktionismus zu verfallen, als auch in der historischen Berücksichtigung des Arbeitsmigrationsregimes Malaysias. Anhand des empirischen Interviewmaterials macht sie immer wieder die qualitativen Merkmale der Überausbeutung deutlich: Der Zwang zu Überstunden, die marginalen intergenerationalen Aufstiegschancen, die Illegalisierung der Arbeitskräfte und die Notwendigkeit zur Subsistenzwirtschaft der Kernfamilien, auf die die transnationalen Familien für ihre Reproduktion angewiesen bleiben, machen den Unterschied von Überausbeutung zum „normalen“ Ausbeutungsverhältnis sichtbar.

Puder erkennt treffend, dass die Reproduktionssphäre der wesentliche Austragungsort der Überausbeutung ist und strukturell in die Entsendeländer hineinreicht. Wünschenswert wäre deshalb eine tiefergehende Untersuchung der Implikationen für das Entsendeland (hier Indonesien), im Hinblick auf die Geberrolle der Arbeitskräfte und die Geschlechterrolle der Reproduktionskraft. Wenn Frauen – wie sie beschreibt – in den Entsendeländern zurückbleiben oder auf den Plantagen den Haushalt und die Kindererziehung übernehmen, ist die Bereicherung der Theorie durch einen geschlechtsspezifischen Ansatz unumgänglich. Puder erkennt zwar abschließend in ihrer Heuristik, dass Geschlecht als intersektionale Strukturkategorie berücksichtigt werden muss, beschränkt sich allerdings theoretisch-analytisch auf Klasse und Ethnie. Das ist eine Leerstelle, auch wenn sie in ihrer analytischen Aufarbeitung von Überausbeutung, die die Vermittler Staat und Politik in den Blick nimmt, durchaus vertretbar erscheint.

Der Anspruch an Vollständigkeit einer Arbeit ist zwar ein Mythos, aber die vollständige theoretische Berücksichtigung beider Dimensionen des Intersektionalitätsansatzes wäre notwendig für eine wirkungsvolle Forschungsheuristik, deren Bereitstellung ihr Ziel ist. Wer sich daran stört, verkennt jedoch den eigentlichen Wert ihrer Arbeit: Sie baut eine stringente, theoretische Argumentationslinie auf, in der komplexe Theorien auf mehreren Ebenen kombiniert werden. In Verbindung mit ihrer umfassenden Datengrundlage bildet sie eine Heuristik, die die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen innerhalb des Lohnarbeitsverhältnisses qualitativ systematisiert. Die Autorin schafft somit ein Analyseinstrumentarium, das uns den Weg für weitere Forschungsarbeiten zur Überausbeutung ebnet. Denn selbstverständlich sind nicht alle Fragen in diesem Forschungsbereich beantwortet, doch die Werkzeuge stehen uns nun zur Verfügung.


Janina Puder 2022: Akkumulation – Überausbeutung – Migration. Arbeit im malaysischen Palmöl-Industriellen-Komplex.
Campus Verlag, Frankfurt/New York.
ISBN: 9783593516394.
347 Seiten. 44,00 Euro.

Dieser Beitrag wurde am 11.04.2022 auf kritisch-lesen.deKooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.

Titelbild: Nazarizal Mohammad auf Unsplash

Artikel teilen/drucken:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.