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Was alle betrifft, muss von allen beschlossen werden

In einer Demokratie gestalten wir unsere Lebensbedingungen gemeinsam, jeder Mensch und jede Stimme zählen dabei gleich viel. Gleichheit und Mitbestimmung sind auch jene beiden Versprechen, die seit ihren Anfängen so viele Menschen von der Demokratie überzeugen. Und tatsächlich: Im Laufe ihrer Geschichte haben immer mehr Gruppen Beteiligungsrechte erhalten. Allerdings wurden diese Rechte nie großzügig verteilt – sie mussten jedes Mal, unter anderem von der Arbeiter:innenbewegung, erkämpft werden. Und auch heute klafft zwischen der demokratischen Idee und der Realität wieder ein beträchtlicher Spalt.

Von Martina Zandonella, SORA-Instiut (A&W-Blog)

Mitbestimmung ist eine Frage des Einkommens

So darf inzwischen ein Drittel der Wiener:innen aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft nicht wählen. Dies trifft nicht alle Bevölkerungsgruppen im selben Ausmaß, denn 6 Prozent der öffentlich Bediensteten und 26 Prozent der Angestellten, jedoch 60 Prozent der Arbeiter:innen haben einen ausländischen Pass. Österreichweit trifft dieser Ausschluss vom zentralen Beteiligungsverfahren der repräsentativen Demokratie jede:n Fünfte:n; unter den Reinigungskräften sind es jedoch 70 Prozent, unter den Pflegekräften 65 Prozent und unter den in Gastronomie bzw. Beherbergung Beschäftigen rund 50 Prozent. Fehlende Mitbestimmung schlägt sich unter anderem in den Arbeitsbedingungen dieser Branchen nieder: Prekäre Dienstverhältnisse, niedrige Einkommen und hohe Arbeitsbelastungen sind die Norm.

Grafik: Demokratische Mitbestimmung, Wahlberechtigte in Österreich und Wien
Grafik: A&W-Blog

Entlang des Einkommens verläuft die Kluft auch innerhalb der Gruppe der Wahlberechtigten: Bei der letzten Nationalratswahl im Herbst 2019 haben 83 Prozent der Menschen im oberen Einkommensdrittel ihre Stimme abgegeben, jedoch nur 59 Prozent im unteren Einkommensdrittel.

Grafik: Wähler*innen und Nichtwähler*innen nach Einkommensgruppen
Grafik: A&W-Blog

Für das untere Einkommensdrittel hält die Demokratie ihre zentralen Versprechen nicht

Fragen wir die Menschen im unteren Einkommensdrittel, warum sie nicht (mehr) zur Wahl gehen, stehen Ungleichwertigkeit, fehlende Repräsentation und mangelnde Mitbestimmung ganz oben auf der Liste der Antworten: Die überwiegende Mehrzahl von ihnen berichtet, von der Politik als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden und von der Gesellschaft wenig Wertschätzung für ihre Arbeit zu erhalten. Auch im Parlament sieht sich das untere Einkommensdrittel kaum vertreten und mehr als die Hälfte von ihnen findet derzeit keine Partei, die ihre politischen Anliegen vertritt. Mit politischer Beteiligung – z. B. der Wahlteilnahme – etwas bewirken können? Davon ist nur mehr jede:r Vierte überzeugt. Dass sie und ihre Stimme nicht zählen, ist dabei oft die prägendste Erfahrung, von der die Menschen im unteren Einkommensdrittel im Zusammenhang mit Demokratie berichten.

Ist dies „nur“ ein subjektiver Eindruck oder übersetzt sich ökonomische Ungleichheit tatsächlich in ungleiche politische Mitbestimmung? Inzwischen belegen zahlreiche Forschungsergebnisse, dass auch in Demokratien unseren Zuschnitts die politischen Entscheidungen zugunsten der ohnehin schon Bessergestellten verzerrt sind. Die Anliegen der unteren Einkommensgruppen haben demgegenüber kaum Chancen auf Umsetzung. Damit untergräbt die auf den Märkten erzeugte Ungleichheit die politische Gleichheit, weil sich ökonomische Ressourcen in politischen Einfluss übersetzen. Dies hat weitreichende Auswirkungen, in erster Linie auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen jener in schlecht bezahlten Jobs, gerade in Zeiten zunehmender ökonomischer Ungleichheit.

Auch bei der Arbeit sind Gleichheit und Mitbestimmung eine Frage des Einkommens. So ist es für 6 Prozent der Beschäftigten im oberen, jedoch für 24 Prozent der Beschäftigten im unteren Einkommensdrittel völlig normal, dass im Betrieb das Arbeitsrecht nicht eingehalten wird. Werden für die Belegschaft wichtige Entscheidungen getroffen, können wiederum 67 Prozent der Beschäftigten im oberen Einkommensdrittel zumindest ihre Meinung dazu äußern. Im unteren Einkommensdrittel gilt dies für nicht einmal halb so viele Beschäftigte. Betriebliche Demokratie kann jedoch mehr:

Betriebliche Mitbestimmung stärkt die Demokratie

Im Gegensatz zu Parlaments- und Bundespräsident:innenwahlen sind bei Arbeiterkammer- und Betriebsratswahlen alle Beschäftigten wahlberechtigt, egal welchen Pass sie haben. Bei Wahlen im Betrieb geben nicht nur Kolleg:innen mit ausländischen Staatsbürgerschaften, sondern auch österreichische Staatsbürger:innen im unteren Einkommensdrittel und Lehrlinge oft zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Stimme ab. Dass sie dabei überwiegend positive Erfahrungen machen, liegt vor allem an den Betriebsrät:innen. „Der Betriebsrat hat mit mir über die Wahl gesprochen, da hab ich zum ersten Mal gedacht: Politik hat etwas mit meinem Leben zu tun.“ Diese und ähnliche Aussagen hören wir in unserer Forschung häufig von den Beschäftigten der genannten Gruppen.

Betriebliche Mitbestimmung stärkt die Demokratie, weil sie gerade jenen wirksame Beteiligung ermöglicht, die sonst oft nicht gehört werden. Haben diese Menschen einen engagierten Betriebsrat, stehen sie dem politischen System insgesamt positiver gegenüber und beteiligen sich auch häufiger außerhalb der Arbeit. Wird Mitbestimmung zunehmend zu einem Privileg der Alteingesessenen und Bessergestellten, ist die Demokratiearbeit der Betriebsrät:innen eines der Zahnräder, die es zu stärken gilt. Auf dem Spiel steht derzeit nichts weniger als die Demokratie selbst.


Der Beitrag wurde am 09.10.2023 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Titelbild: Arnaud Jaegers auf Unsplash

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