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20 Jahre Liberalisierung der Güterbahnen – eine Bilanz

Für die längst fällige Mobilitätswende muss der Güterverkehr einerseits reduziert, aber auch vermehrt auf die Bahn verlagert werden. Denn in ökologischer Hinsicht ist die Güterbahn dem Lkw-Verkehr weit überlegen: Sie ist sicherer, sauberer und energieeffizienter. So betragen deren Treibhaus-Emissionen in Österreich – im Vergleich zum Lkw – gerade einmal ein Zwanzigstel. Der Schienengüterverkehr müsste also ausgebaut werden, wurde aber durch die Eisenbahnliberalisierung geschwächt. Es wäre daher höchste Zeit, aus den Fehlern zu lernen und bei der Liberalisierung den Rückwärtsgang einzulegen.

Von Heinz Högelsberger, AK Wien (A&W-Blog)

Nationale integrierte (Infrastruktur, Personen- und Güterverkehr in einer Hand) Staatsbahnen dominierten für viele Jahrzehnte das europäische Eisenbahnwesen. Es hatte historische und militärische Gründe, dass dessen technische Systeme stark fragmentiert waren bzw. sind: unterschiedliche Spurweiten, verschiedene Stromsysteme (Gleich- und Wechselstrom in mehreren Spannungshöhen), national unterschiedliche Gesetze, unterschiedliche Sicherungs- und Signalsysteme usw. Die Europäische Kommission bemühte daher den Vergleich mit dem Lkw-Verkehr, wo ein Fahrzeug von „Helsinki bis Palermo“ unter identen Rahmenbedingungen unterwegs sein kann. Geschickt verbindet sie dabei die positiven Ansätze einer technischen Harmonisierung mit ihrem ideologischen Anliegen der Liberalisierung.

Befürworter von Liberalisierungen argumentieren gerne damit, dass Wettbewerb alles besser und billiger machen würde. Der tatsächliche Grund ist aber, Dienstleistungen der Daseinsvorsorge zu einem gewinnbringenden Geschäft zu machen. Betreibt nämlich die öffentliche Hand Krankenhäuser, Wasserversorgung, Eisenbahnen, Schulen usw. gibt es kein Geschäftsmodell für Private; und den öffentlichen Betreibern reicht oft eine schwarze Null. Erst durch Liberalisierung und Wettbewerb kommen Profitinteressen hinzu. Aus einem Service für alle wird dadurch ein gutes Geschäft für wenige.

Eine Frage der Sicherheit

Die Eisenbahn ist ein sehr sicheres Verkehrsmittel und soll es auch bleiben. Die Liberalisierung hat aber zum „Unbundling“ (= Entflechtung) von integrierten Eisenbahnunternehmen geführt; so kümmert sich die „ÖBB Infra“ um die Schienenstrecken, die dann von den Schwesterunternehmen ÖBB Personenverkehr und Rail Cargo Austria befahren werden. Aber auch andere Eisenbahnen sind auf diesem Streckennetz unterwegs. Dies führt zu Schnittstellenproblemen und hat negative Auswirkungen auf die Gesamteffizienz sowie auf die Sicherheit. Ein objektiver (Un)-Sicherheitsindikator ist das Überfahren von Haltesignalen. Wie Daten aus Deutschland und Tschechien zeigen, haben diese Zwischenfälle in den vergangenen Jahren signifikant zugenommen (siehe Grafik). Dies liegt an der mangelnden Koordination oder schlechter Kommunikation zwischen den verschiedenen Unternehmen, aber auch am zunehmenden Stress sowie mangelhafter Ausbildung bei den Beschäftigten.

Die Krux mit der Liberalisierung des Güterverkehrs

Jahrzehntelang bestand das Geschäftsmodell von Staatsbahnen darin, mit sogenannten Ganzzügen ausreichend Gewinn zu machen, um damit den arbeits- und kostenintensiven Einzelwagenverkehr betreiben zu können. Zur Erklärung: Ganzzüge fahren „in einem Stück“ von A nach B. Das kann ein Containerzug vom Hafen Rotterdam zum Terminal Wien sein oder ein Kohletransport von Polen zur Voest nach Linz. Beim Einzelwagenverkehr werden einzelne Waggons oder Wagengruppen von einem Sägewerk, einem Zementwerk usw. abgeholt und mit anderen Waggons zu einem Zug zusammengestellt. Mit diesem „Einsammeln“ kann man in Summe zahlreiche Züge zusammenstellen und gewaltige Tonnagen bewegen. Dieser Verkehr stellt durch seine Flächenerschließung eine gute Alternative zum Lkw dar, ist aber im Betrieb aufwändig und kostspielig.

Mit dem Ersten Eisenbahnpaket aus dem Jahr 2001 wurden u. a. die Zugangsrechte für den internationalen Güterverkehr geregelt und schrittweise ausgedehnt. Durch die Eisenbahnliberalisierung kam es bei den Ganzzügen durch neue Anbieter zu einem scharfen Wettbewerb, wodurch die Frachttarife sanken. Das mühselige „Gröscherlgeschäft“ des Einzelwagenverkehrs überließ man weiterhin den Staatsbahnen, die dieses kontinuierlich zurückfuhren. Der Einzelwagenverkehr macht in Deutschland immer noch etwa 40 Prozent des gesamten Schienengüterverkehrs aus, aber die Anzahl der privaten Gleisanschlüsse ist seit 1994 auf ein Fünftel zurückgegangen.

Ein weiterer Faktor ist, dass durch die schleichende Deindustrialisierung Europas der Anteil der klassischen „schienenaffinen“ Güter – also Kohle, Stahl, Zement usw. – abnimmt. Hinzu kommt, dass EU-Binnenmarkt und wirtschaftliche Globalisierung auf möglichst billigen Gütertransport aufgebaut sind. Nur durch dieses „Schmiermittel“ kann man an jedem beliebigen Ort produzieren und dann zu den Konsument:innen liefern. Das ist auch der Hintergrund, wieso durch Sozial- und Umweltdumping der Lkw-Verkehr künstlich billig gemacht wird. Die furchtbaren Arbeitsbedingungen der Lkw-Fahrer sind also kein Hoppala, sondern kalkulierte Absicht. Dies setzt den Schienengüterverkehr natürlich zusätzlich unter Druck. Der Marktanteil der Güterbahnen ist in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich; er geht aber kontinuierlich zurück: Lag er in der EU 1995 noch bei 15,6 Prozent ist er bis 2021 auf 11,9 Prozent zurückgegangen. Inzwischen hat er – auch bedingt durch die erhöhten Energiepreise – einen kritischen Wert erreicht, wodurch der Weiterbestand der Güterbahnen ernsthaft gefährdet ist. Die Güterverkehrssparte von SNCF und DB sind durch Untersuchungen der Europäischen Kommission über „Schuldenerlässe“, die als ungerechtfertigte Beihilfen verstanden werden, in ihrer Existenz bedroht.

Was tun?

Die neoliberal ausgerichtete Generaldirektion Mobilität und Verkehr der Europäischen Kommission hat es verabsäumt, für einen „fairen Wettbewerb“ zwischen den Verkehrsträgern zu sorgen. Stattdessen hat sie einen ruinösen Wettbewerb zwischen den Güterbahnen angezettelt. Bislang hat man den Lkw-Verkehr stark subventioniert (Dieselprivileg, Mautbefreiung auf den meisten Straßen, Mautspielräume auf Österreichs Autobahnen nicht ausgenützt, wenig Kontrollen usw.), aber auch den Schienengüterverkehr etwas gefördert. Bei der Bahn ist man aus wettbewerbsrechtlichen Gründen rasch an finanzielle Grenzen gestoßen. Dieses Gießkannenprinzip muss aufhören! Stattdessen benötigen wir echte Kostenwahrheit beim Lkw und hohe soziale Standards bei allen Verkehrsträgern. Wirksame Fördermaßnahmen bei der Güterbahn sind aber weiterhin notwendig – speziell beim Einzelwagenverkehr.

Der Bahnsektor ist durch hohe Fixkosten gekennzeichnet. Eine der wenigen Stellschrauben für Wettbewerbsvorteile liegt bei den Personalkosten. Wie eine aktuelle Untersuchung der ETF (Europäische Transportarbeiter:innen-Föderation) zeigt, haben Entflechtung, Privatisierung und verstärkter Wettbewerb zu einer Abwärtsspirale der Sozial- und Arbeitsbedingungen bei den Eisenbahnen in der gesamten EU geführt. Das hat auch negative Auswirkungen auf die Attraktivität für potenzielle Arbeitnehmer:innen, Lehrlinge und diejenigen, die bereits in diesem Sektor arbeiten. Ohne politische Kurskorrektur wird es in Zukunft nicht genug Eisenbahner:innen geben, um die zukünftigen Herausforderungen zu bewältigen und das Land am Laufen zu halten. Dann sieht es aber schlecht für die Mobilitätswende aus!

Über dies und andere Bahnthemen informiert die aktuelle Kampagne „Unsere Bahnen“ von Gewerkschaft vida und AK.

Am 8. April 2024 findet im AK-Büro in Brüssel eine spannende Podiumsdiskussion zum Thema „Railway Liberalisation – Lessons learned“ statt. Beginn ist um 18.30 Uhr. Die Veranstaltung wird auch gestreamt.


Dieser Beitrag wurde am 28.02.2024 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Titelbild: ÖBB-Güterzug in Kleinstübing. Foto: Armin Ademovic, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

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