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Eine Straße ins Nichts

„Freiheit als Privileg“: Domenico Losurdos Gegengeschichte des Liberalismus neu gelesen.

Ein Gastbeitrag von Max Sternbauer

Buchcover
Domenico Losurdo – Freiheit als Privileg (PapyRossa Verlag)

Während der irischen Hungersnot in der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen britische Politiker auf eine geniale Idee, um den Notleidenden zu helfen. Ob sie die alte chinesische Weisheit kannten, wonach man einem Hungernden entweder einen Fisch geben oder ihm gleich das Fischen beibringen kann, ist nicht überliefert. Aber das Parlament war in London  auf eine vergleichbare Lösung gekommen.

Die notleidende irische Bevölkerung sollte keine Almosen erhalten, sondern für ihre Lebensmittel arbeiten. Von Hunger ausgezehrte und geschwächte Personen waren dazu angehalten worden, ihr Brot unter anderem auf Baustellen zu verdienen; für Straßen, die ins Nichts führten.

Diese Anekdote findet sich nicht im Buch von Domenico Losurdos, wohl aber Gedanken, die sich der große britische Gesellschaftstheoretiker John Locke über die Rolle der amerikanischen Indigenen Bevölkerung gemacht hatte. Sie sollten nämlich vertrieben werden, um deren Land freizumachen, um es arbeitswilligen Siedlern zu übergeben. Losurdos Buch, „Freiheit als Privileg,“ geht an die Wurzeln des Westlichen Verständnisses von Demokratie und will einige Mythen aufräumen

Heutzutage wird von liberalen Politikern ein Bild gezeichnet, wonach demokratische Errungenschaften in langen friedlichen Prozessen ohne Repressionen errungen worden seien. Diese Erzählung dekonstruiert Losurdo in seinem Buch und erzählt die wahre Entstehungsgeschichte des Liberalismus.

Eine Schattenseite, die Losurdo aufgreift, ist die Rolle der Sklaverei in der Geschichte der USA. Der Historiker Edmund S. Morgan bezeichnete die Sklaverei als das zentrale Paradoxon in der Geschichte des Landes: „Rassismus erlaubte den weißen Virginianern, eine Hingabe an die Gleichheit zu entwickeln, welche die englischen Republikaner zur Seele der Freiheit erklärt hatten.“

In dem Buch werden auch Theoretiker aus den Südstaaten der USA zitiert, die leidenschaftlich den Wert des Eigentums, also Sklaven, verteidigen. Würde man die historische Patina dieser Aussagen abschaben, kämen sie modernen Leser*innen erschreckend vertraut vor. Der Liberalismus war lange Zeit die Parole einer nach politischen Mitbestimmung fordernden Klasse, die sich gegen aristokratische Herrschaft wehrte. Politische Emanzipation ALLER Menschen war aber auf den Bannern früher liberaler Theoretiker mitnichten zu lesen.  

Dieses Paradoxon der liberalen Geschichtsschreibung, ist der zentrale Fokus dieses Buches. Es wird gezeigt, dass die Forderung nach politischer Mitbestimmung von einer politischen Klasse gefordert wurde, die sich ganz klar von anderen Klassen abgrenzen wollte und jeden Angriff einer Zentralgewalt an ihr Eigentum bekämpfte. 

Aber da zeigen sich auch die Leistungen des Philosophen. Losurdo konnte schreiben – anders als zahllose seiner Zunft. Abzulesen in diesem Buch, anhand eines Stils, dem man den  Anspruch ansieht, aber der dennoch spannend bleibt. Zudem wird auf eine anklagende Position verzichtet, und sogar im Gegenteil werden die historischen Verdienste des Liberalismus gewürdigt.

Das Buch ist ein wichtiger Beitrag für die Frage, was denn Demokratie genau für eine Gesellschaft bedeuten soll. In dem die Entstehungsgeschichte des Liberalismus entzaubert wird, kann auch über eine funktionierende Demokratie debattiert werden. 

Domenico Losurdo, 2018 verstorben, war Professor der Philosophie an der Universität Urbino, publizierte unter anderem zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhundert und zählte zu den produktivsten marxistischen Autoren.


Domenico Losurde – Freiheit als Privileg (2011)
PapyRossa Verlag – 476 Seiten, 24,90 Euro
ISBN:978-3-89438-431-9

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Titelbild: Ren Wang auf Unsplash

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