Eingesperrt im Paradies
Von Michael Wögerer
São Paulo, Bela Vista – Vor dem drei Meter hohen Eisenzaun am Eingang des 18-stöckigen Wohngebäudes ist ein Wachmann postiert, hinter den Gitterstäben sitzt ein weiterer Security in seinem Wächterhaus mit verdunkelten Fensterscheiben. Es wirkt wie ein Gefängnis und im Grunde ist es das auch – nur mit umgekehrter Funktion: Die Verbrecher sollen draußen bleiben.
Drinnen befinden sich Eigentumswohnungen, die zwischen 35.000 und 3,5 Mio. Euro kosten. Für brasilianische Durchschnittsverdiener (12.303 €/Jahr laut OECD) kaum finanzierbar – Mindestlohnbezieher (rund 5.000€/Jahr) können davon sowieso nur träumen.
Wer es in den Wohnkomplex schafft, lebt auf dem ersten Blick wie im Paradies: Swimmingpool, Party-Saal, Dachterrasse mit tollem Ausblick und Grillmöglichkeit, Spielplatz für die Kinder, Fitnessstudio, High-Tech-Wäscherei und ein kleiner Supermarkt mit Self-Checkout-System, der rund um die Uhr offen hat. Alles, was das Herz begehrt…
Meine ersten Erfahrungen mit dem Traumhaus sind ernüchternd: Am Spielplatz keine Kinder, im Party-Saal keine Partys, den Swimmingpool hatte ich für mich allein. Im Mini-Markt kann ich mir kein Bier kaufen, weil die dafür notwendige App auf meinem österreichischen Handy nicht funktioniert – ähnliches gilt für die Waschmaschinen. Alles funktioniert elektronisch und mit Kreditkarte – menschliche Begegnungen sind Mangelware, nur die Dachterrasse wird manchmal für Geburtstagsfeiern genutzt. Die allgemeine Stimmung im Haus: Freundlich, aber distanziert. Am schwarzen Brett stecken Visitenkarten eines Schönheitssalons, Hundefriseurs und eines klinischen Psychologen.
Bizarres Detail am Rande: Im Lift befindet sich folgender Hinweis, der auch die Widersprüchlichkeit der neuen Wokeness deutliche macht: „Jegliche Form der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, sozialem Status, Alter, Größe oder bei Vorliegen einer Behinderung oder einer nicht ansteckenden Krankheit aufgrund sozialer Kontakte ist beim Zugang zu den Aufzügen dieses Gebäudes verboten.“
Ich gebe zu, es ist mein subjektiver, erster Eindruck, den ich nach ein paar Tagen in dieser Gated Community in São Paulo gemacht habe, aber irgendwie lässt mich der Gedanke nicht ganz los, dass Sicherheit auf Kosten von Freiheit und Lebensfreude wohl doch nicht so das große Ding ist. Vielleicht müssen die meisten Hausbewohner auch Tag und Nacht arbeiten, um sich ihr tolles Leben leisten zu können?
Keineswegs möchte ich die Gefahren, die in der größten Stadt Brasiliens lauern, bagatellisieren. Im Stadtgebiet von São Paulo, in dem rund 12,4 Millionen Menschen leben, sind Drogenkonsum, Diebstahl, Gewalt, Raub und Mord an der Tagesordnung. „Die Kriminalitätsraten sind in Brasilien hoch, speziell in den Großstädten“, schreibt auch das österreichische Außenministerium in seiner Reiseinformation. „Leisten Sie bei Überfällen keinen Widerstand, die Täter zeichnen sich in der Regel durch hohe Gewaltbereitschaft aus, die Verwendung von Schusswaffen und Messern/Macheten ist verbreitet“, rät das BMEIA.
Doch zvü gfiacht, is a gstuam, heißt es im österreichischen Volksmund, was in etwa so viel bedeutet, dass man sich mitunter auch zu Tode fürchten kann. Bei manchen hat es sogar den Anschein, dass sie vor lauter Angst zu sterben, darauf vergessen zu leben.
“In ihrer Angst gefangen, wurden diese Mauern zum Beweis ihrer Paranoia. So kann man nicht leben.” (Giovana Schluter)
In den künstlich hochgezogenen und mit Mauern und Stacheldraht geschützten Wohngegenden für die brasilianische Oberschicht (vgl. Alphaville) wird deutlich, dass Wohlstand allein nicht glücklich macht. Die in solchen Umständen hineingeborene brasilianische Photographin Giovana Schluter beschreibt dies folgendermaßen: „Als ich aufwuchs, erlebte ich immer dieses Unwohlsein, das ich nie erklären konnte. Es war mehr langweilig als unecht. Das passiert, wenn die Umgebung bewusst auf eine bestimmte Art und Weise gestaltet wurde.“ (Behind the walls of Brazil’s secretive gated communities)
Dennoch ist es in den letzten zwanzig Jahren in ganz Brasilien zu einem Aufschwung der Gated Communities gekommen, oft zu Lasten der öffentlichen Infrastruktur, erklärt Ermínia Maricato, ordentliche Professorin an der Fakultät für Architektur und Städtebau der Universität von São Paulo, im Interview mit der progressiven brasilianischen Online-Zeitung Brasil de Fato (2018).
„Es gab spektakuläre Spekulationen mit städtischen Grundstücken.“ (Ermínia Maricato)
Beim Neoliberalismus gehe es darum, Städte zu betrachten und nach Geschäftsmöglichkeiten zu suchen, und sich nicht um öffentliche und soziale Politik zu kümmern, kritisiert Maricato. In Brasilien habe die industrielle Entwicklung zur Urbanisierung geführt, aber die Urbanisierung war weit davon entfernt, die Massen in einen Prozess des Rechts auf die Stadt einzubeziehen. „Wir müssen verstehen, dass es im Kern der Stadtpolitik um die soziale Rolle des Privateigentums geht. Städte werden kollektiv gebaut. Wenn Eigentum ohne Einschränkungen genutzt werden kann, besteht keine Chance, dass diese kollektive Konstruktion sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig ist“, so die frühere Ministerin für Wohnungsbau und Stadtentwicklung in São Paulo (1989–1992).
Mehr als 70 Prozent der brasilianischen Bevölkerung lebt in Städten, sie sind die gesellschaftlichen Zentren und die sozialen Brennpunkte Brasiliens, das mit einem Gini-Koeffizient von rund 53 Prozent zu jenen Ländern gehört, in denen die Einkommen am ungerechtesten verteilt sind. Die Spaltung in Arm und Reich ist enorm und dies wirkt sich natürlich darauf aus, unter welchen Bedingungen die Menschen wohnen und leben.
Daraus ergibt sich letztlich auch eine Spaltung der brasilianischen Städte in Favelas (Slums) und No-Go-Areas auf der einen Seite und lifestyle– und gated communities auf der anderen. „Die wenigsten öffentlichen Räume sind für alle gleichermaßen zugänglich: Die einen werden aus Sicherheitsgründen von oberen Schichten gemieden, aus den anderen werden Bewohner unterer Schichten vertrieben (sei es die Vertreibung aus Stadtvierteln oder Zugangsbeschränkungen zu Einkaufszentren)“ (Carolina Kiesel: Gated Communities in Brasilien – Städte als Abbild der Gesellschaft, IfS Analyse, 2015)
Dass im Grunde niemand mit so einer Situation glücklich sein kann, liegt auf der Hand. Höchste Zeit es zu ändern…
In São Paulo finden am 6. Oktober Kommunalwahlen statt, bei denen über den nächsten Bürgermeister, den/die Vizebürgermeister/in und 56 Stadträtinnen und Stadträte entschieden wird. Der Wahlkampf ist in vollem Gange. Laut aktuellen Umfragen hat der linke Kandidat Guilherme Boulos (PSOL) als Herausforderer gegen den amtierenden Bürgermeister und Geschäftsmann Ricardo Nunes (MDB) reelle Chancen die Stadt in den kommenden Jahren wieder ein Stück sozialer und damit für alle sicherer und lebenswerter zu gestalten. Darüber will ich in einem meiner kommenden Blogbeiträge berichten.
Michael Wögerer berichtet während seiner Reise durch Lateinamerika laufend via Alerta Media – Kooperationspartner von Unsere Zeitung.
Titelbild: Michael Wögerer