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Tierversuche: Eine Frage der Nachhaltigkeit? 

Tierversuche sind für viele Menschen ein emotionales und polarisierendes Thema. Auf der einen Seite steht das Argument, dass Tierversuche in fast jedem medizinischen Durchbruch im letzten Jahrhundert eine Rolle gespielt haben. Auf der anderen Seite steht die ethische Sorge, aber auch das medizinische Bestreben, exakte Ergebnisse zu liefern. Es stellt sich die Frage:  Wie nachhaltig sind Tierversuche?

Von Sandra Czadul

Seit zweitausend Jahren gibt es Tierversuche. Versucht man die Wahrheit hinter diesem Thema zu entdecken, wird man auch bei intensiver Recherche, schnell enttäuscht. Tierversuchsbefürworter_innen aber auch Gegener_innen finden genügend Argumente, um die jeweils andere Position zu widerlegen. Vor allem das Thema Tierversuche erinnert daran, dass Forschung nur einen Beitrag zur Wirklichkeit liefern kann, die immer im Kontext zur Zeit und dem aktuellen Wissensstand steht.

Wofür werden Tierversuche durchgeführt?

Tierversuche für Kosmetika sind in Österreich seit 1999 verboten und seit 2013 auch auf EU-Ebene. In Europa werden die meisten Tierversuche im Rahmen der biologischen Grundlagenforschung durchgeführt. Es gibt auch Tierversuche, die gesetzlich vorgeschrieben sind. Zum Beispiel zur Giftigkeits- und Unbedenklichkeitsprüfung aber auch die Herstellung und Qualitätskontrolle von Geräten oder Produkten für die Human-, Zahn- und Veterinärmedizin.

Laut einem EU Bericht von 2019 wurden im Jahr 2017 9,58 Millionen Tiere für Tierversuche verwendet. In Österreich waren es laut Tierversuchsstatistik 2019 insgesamt 246.315 Tiere. Am häufigsten werden Mäuse, Fische, Hühner, Schweine und Kaninchen bei Tierversuchen eingesetzt. Auch Katzen und Hunde sind in der Statistik zu finden. Tierversuche an Menschenaffen sind in Österreich seit 2006 ohne Ausnahme verboten.

Die rechtliche Lage in Österreich

Europaweit werden Entscheidungen auf Grundlage der Tierversuchs-Richtlinie 2010/63/EU begründet. In Österreich ist das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung mit der Vollziehung des Tierversuchsgesetztes 2012 beauftragt.

„Ein Tierversuch liegt laut österreichischem Gesetz dann vor, wenn einem lebenden Wirbeltier oder einem lebenden Kopffüßer zu wissenschaftlichen Zwe­cken Schmerzen, Leiden, Ängste oder dauer­hafte Schäden zugefügt werden und diese Belastungen ein bestimmtes Mindestausmaß erreichen bzw. Überschreiten.“, Definition der Vetmed Uni Wien.

Nach dem Tierversuchsgesetz 2012 dürfen grundsätzlich nur solche Tiere zu Versuchen verwendet werden, die zu diesem Zweck gezüchtet wurden und damit von genehmigten und registrierten Züchtern bzw. Lieferanten stammen.Das Tierversuchsgesetz 2012 unterscheidet des Weiteren zwischen fünf verschiedenen Schweregraden. Der geringste Schweregrad liegt vor, wenn das Tier während den experimentellen Maßnahmen in tiefer Narkose ist, und daraus nicht mehr aufwacht. Die zentralen Leitprinzipien zum Schutz von Versuchstieren werden als 3R bezeichnet: Replacement (Vermeidung), Reduction (Verringerung), Refinement (Verbesserung).

Der Spagat zwischen Praxis und Theorie im Genehmigungsverfahren?

Im Vorfeld eines Tierversuchs muss abgeklärt werden, ob ein Versuchszweck auch ohne lebende Tiere erreicht werden kann. Jedes Projekt mit Tierversuchen muss davor genehmigt und dokumentiert werden. Wenn es also Alternativen zu einem Tierversuch gibt, darf er laut Gesetz nicht durchgeführt werden.

Laut DDr. Martin Balluch (Obmann des Verein gegen Tierfabriken) und Mag.jur. Eberhart Theuer (Forschungsstelle für Ethik und Wissenschaft im Dialog und Mitglied der Tierversuchskommission des Bundes) läuft es in der Praxis allerdings anders ab. Denn ihnen ist kein einziger Fall bekannt, bei dem ein Tierversuch abgelehnt wurde. Darauf antworten Tierversuchsbefürworter_innen, dass es im Vorhinein schon zu einer strengen Vorauswahl komme.

Eine eigens eingerichtete Ethikkommission prüft ob ein Tierversuch gerechtfertigt ist. Obwohl es mittlerweile einige Alternativen gibt, werden immer noch zahlreiche Tierversuche durchgeführt die ersetzt werden könnten. Kritisiert wird auch, dass die Richtlinien der Ethikkommission intern, zum Beispiel an Universitäten, festgelegt werden.

Jedes Projekt muss vom Ministerium für Wissenschaft genehmigt werden. Auch hier sei von außen nur schwer erkennbar, welche Legitimität die Entscheidung für oder gegen einen Tierversuch hat. Es gibt zwar einen Kriterienkatalog, der allerdings subjektiv und nicht objektiv bewertet, ob ein Tierversuch notwendig ist. Es käme dabei eher darauf an, wie gut man argumentieren kann und weniger wie sehr das Tier leidet. Wenn es keine Alternative gibt muss der Tierversuch nämlich einer Schaden-Nutzen Analyse unterzogen werden. Also: Ist der Nutzen größer als das Leid, dann darf der Versuch durchgeführt werden.

Was bedeutet eigentlich notwendig?

Tierversuche dürfen durchgeführt werden, wenn sie notwendig sind. Die Notwendigkeit eines Projektes, sowie das Maß an Leid, das ein Tier bei Tierversuchen erträgt, ist allerdings nur schwer objektiv messbar.

“Faktum ist, dass bei Tierversuchen in Österreich völlige Narrenfreiheit herrscht. So gibt es keine Schaden/Nutzen Abwägung, sondern jeder Tierversuch, der einem der im Gesetz angegebenen Zwecke dient, darunter die Verhütung von Krankheiten bei Pflanzen, die Verbesserung der Produktionsbedingungen in der Tier-Landwirtschaft oder die Entwicklung von Futtermitteln oder Erhaltung der beruflichen Fähigkeiten in der Tierproduktion, darf durchgeführt werden.”, schreibt Balluch.

Leben die Tiere artgerecht? 

In vielen Bereichen mangelt es der Menschheit noch immer an Wissen –  ein Argument, das auch für Tierversuche eingesetzt wird. Doch da wir noch nicht einmal uns selbst komplett verstanden haben, stellt sich die Frage, wie wir beurteilen können, was wirklich in den Tieren vorgeht? 

Laut Dr. rer. nat. Dilyana Filipova (Verein Ärzte gegen Tierversuche) kann von einer artgerechten Haltung bei Tierversuchen nicht gesprochen werden:  

“Die Tiere, die für Versuche benutzt werden, verbringen ihr ganzes Leben in sehr engen, kahlen Käfigen und in einer komplett künstlichen Umgebung, die keineswegs als „artgerecht“ bezeichnet werden kann. Alles wird standardisiert und einheitlich gehalten: die künstliche Belichtung, Lüftung und der ’Tag-Nacht’-Rhythmus; Die Tiere bekommen jeden Tag genau das gleiche Futter und Wasser. Vor allem bei Nagetieren teilen sich mehrere Tiere enge Käfige, was häufig Aggression und Verletzungen unter den Tieren verursacht. Manchmal werden soziale Tiere wie Hunde, Kaninchen und Mäuse alleine gehalten, was zu deutlichen psychischen und geistigen Störungen führt. Bei Mäusen und Ratten, welche die am meisten benutzten ’Versuchstiere’ sind, sind die Käfige so eng, sodass die Ausführung einiger natürlichen Bewegungen wie graben und buddeln nicht möglich ist. Selbst wenn man z. B. eine Maus oder eine Ratte als Haustier hat, ist es undenkbar die Tiere unter denselben Bedingungen zu halten, die in den ,Versuchstierhaltungen’ üblich sind.”

Die Reproduzierbarkeit der Versuche

In einem Artikel in der Zeitschrift New Scientist betont Joseph Garner von der Stanford University: „Tiermodelle können menschliche Krankheiten nicht modellieren.“ Das läge zum einen daran, dass Tiere für Tierversuche hoch standardisiert werden. Denn mit der zunehmenden Standardisierung und genetischen Veränderung der Versuchstiere, rücke man immer weiter weg von realistischen Bedingungen. Seiner Meinung nach sind Tierversuche nur dann ethisch vertretbar, wenn sie eindeutige Vorteile für den Menschen bringen

Die Standardisierung sei aus Sicht der Tierversuchsforschung aber wichtig, um die statistische Streuung der Versuchsergebnisse zu minimieren. Denn sonst würde Aussagekraft und Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Studien weiter verringert werden. Man unterscheidet hier zwischen endogenen Faktoren, wie Alter oder Geschlecht und exogenen Faktoren wie Haltungssystemen oder Fütterung.

Die Übertragbarkeit auf den Menschen

58.000 Menschen sterben jährlich in Deutschland an den Nebenwirkungen von Medikamenten, die auch im Tierversuch erprobt wurden. Bis ein Medikament auf den Markt kommt dauert es mehrere Jahre. Das Medikament durchläuft in dieser Zeit verschiedene Phasen. Eine davon ist die präklinische Prüfung neuer Wirkstoffe, die in Tierversuchen angewendet wird und vor allem die Toxizität ermitteln soll. Eine Studie zeigt, dass mindestens 30% der toxischen Effekte, die beim Menschen auftreten, nicht durch Tierversuche ermittelt werden können.

Nach der präklinischen Phase werden die Präparate Menschen verabreicht. Allerdings nur sehr wenigen, weil es nicht sicher sei, ob der Wirkstoff verträglich ist. 95 % der Medikamente, die im Tierversuch für wirksam und sicher befunden wurden, scheitern in klinischen Studien am Menschen.

Ein Beispiel: Aids und Schimpansen

In Österreich ist die Verwendung von Schimpansen und anderen Menschenaffen zwar verboten, aber weltweit kommen sie in Versuchslabors noch immer zum Einsatz, um wissenschaftliche Aussagen zum Beispiel über das menschliche Gehirn zu liefern. Das liegt daran, dass sich ihr genetisches Material vom Menschen um nur vier Prozent unterscheidet. In der Vergangenheit hat man versucht einen Wirkstoff für Hepatitis B, Malaria oder Aids zu finden, indem man Schimpansen künstlich solche Krankheiten injizierte.

Obwohl Forscher_innen den Durchbruch in Sachen Aids prophezeiten, stellte sich heraus, dass Schimpansen nicht jene Form der Immunschwäche entwickeln, die bei uns Menschen entsteht. Zahlreiche Schimpansen und andere Tiere verbrachten ihr Leben in einem Käfig, infiziert mit einer Krankheit, gegen deren Erreger sie immun sind. Kleine Unterschiede zwischen den Arten führen auf genetischer Ebene zu tödlichen Fehlern in der medizinischen Praxis. Dieses Beispiel zeigt: Tierversuche können Reaktionen beim Menschen nicht verlässlich vorhersagen.

Alternativen und die personalisierte Medizin

Der Mensch ist ein komplexes System. Hier herrscht Einigkeit. Allein zwischen uns Menschen gibt es große Unterschiede. Zwischen Männern und Frauen und sogar bei Zwillingen. Um wirkliche Erkenntnisse gewinnen zu können, braucht es laut Experten eine Forschung, die auf das Individuum angepasst ist. Wir leben also am Anfang des Zeitalters der personalisierten Medizin.

Heutzutage wird weltweit an zahlreichen Methoden geforscht, die Tierversuche für menschliche Zwecke eines Tages obsolet machen könnten. Zu den tierversuchsfreien Alternativen gehören Zellkulturen, die instrumentelle Analytik, computergestützte Analytik, künstliche Modelle, biochemische Testverfahren und Microdosing. Eine Übersicht über die Alternativen zu Tierversuchen findet man in dieser Datenbank

In einer Aussendung der TU Wien erklärt Dr. Mario Rothbauer:

„Tierversuche sind nicht nur ein ethisches Problem, sie haben auch wissenschaftliche Nachteile. Ein Medikament, das bei einer Maus wirkt, muss noch lange nicht die beste Lösung für einen Menschen sein – bei Kontergan zum Beispiel hat das Mausmodell versagt wie wir wissen. Außerdem sind Tierversuche kaum exakt reproduzierbar. Kleine Veränderungen in der Haltung als auch der Behandlung der Tiere können große Auswirkungen auf die Endergebnisse haben. Daher wählt man an der TU Wien einen systematischeren Ansatz: Man kultiviert menschliche Gewebeproben, und kann sie dann in einem Biochip genau kontrollieren und untersuchen.“

Seine Forschung an der Med Uni Wien zielt darauf ab, patienten-basierte Mikrosysteme für die Grundlagenforschung von Krankheiten zu entwickeln, die auf tierische Produkte und Tierversuche verzichtet. Anstelle von Tierversuchen setzt man hier auf Gewebe und Zellen von humanen und tierischen Patienten.

Warum gehören Tierversuche noch nicht der Vergangenheit an?

Man könnte meinen, tierversuchsfreie Forschung wäre um ein Vielfaches teurer als tierversuchs basierte Forschung. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn das Problem an Tierversuchen ist auch: Sie sind sehr teuer. 

“Viele Forscher haben ihre ganze Karriere auf Tierversuche aufgebaut und möchten nicht auf Tierversuche verzichten, weil sie damit vertraut sind und sich mit den neuen tierversuchsfreien Methoden nicht ausreichend auskennen.Die Tierversuche werden sehr gut finanziert – über 99% der öffentlichen Fördergelder für biomedizinische Forschung fließen in die Tierversuche. Hinter den Tierversuche steht auch eine milliardenschwere Industrie, die alles von „Versuchstiere“ (eine genetisch modifizierte Maus kann bis zu €80,000 kosten) bis Laborausrüstung bietet und eine starke Lobby Pro-Tierversuche betreibt. Rein wissenschaftlich gehören Tierversuche aber schon längst der Vergangenheit an, da sie keine zuverlässige Informationen für den Menschen liefern”, sagt Filipova.

Sind Tierversuche nachhaltig? 

Zurück zur Anfangsfrage: Wie nachhaltig sind Tierversuche?

Die Erkenntnisse und Daten aus Tierversuchen bleiben, sobald wir sie gewonnen haben. Doch weiterhin Geld in Praktiken zu investieren, die nicht zukunftsträchtig sind, ist nicht nur ein Problem beim Klimawandel, sondern auch bei Tierversuchen.

Es gibt Alternativen zu Tierversuche, die noch weiterentwickelt werden müssen und in diese sollten wir investieren. Nicht nur aus ethischen Gründen gegenüber den Tieren selbst, sondern auch in Bezug auf uns Menschen. 

Wichtig ist, über dieses Thema zu reden, und es nicht als selbstverständlich zu erachten, dass Tierversuche stattfinden. Jede_r sollte über Alternativen und Möglichkeiten Bescheid wissen, damit wir darüber auf sachlicher Ebene diskutieren, unsere Meinung vertreten und uns als Gesellschaft weiterentwickeln können.

Gesetzlich braucht es bessere Kontrollen, und einen handfesten Nachweis, dass wirklich keine Alternative existiert. Es braucht mehr Transparenz, wofür Tiere getestet werden und was als notwendig erachtet wird. Denn in Deutschland stirbt alle 10 Sekunden ein Tier für Tierversuche.

Danke für's Lesen!

Titelbild: Tibor Janosi Mozes auf Pixabay

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