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Notbremsung vor der Naturschranke

Die Idee des grünen Kapitalismus ist ein Widerspruch in sich. Um der Umweltzerstörung entgegenzuwirken, braucht es eine neue Art des Wirtschaftens. – Sonntag ist Büchertag

Von Lara Wenzel (kritisch-lesen.de)

Buchcover von Shutdown
Ernst Lohoff, Norbert Trenkle (Hg.) – Shutdown (Unrast-Verlag)

Im 19. Jahrhundert trafen sich im Versuch, das Nordpolarmeer zu durchqueren, ökonomische Interessen mit nationalistischem Forscherdrang. Auf der Suche nach einer Nordost- oder Nordwestpassage froren Expeditionsflotten im Eismeer ein, überwinterten in der Finsternis und benannten noch mit abfrierenden Fingergliedern jede neuauftauchende Insel nach ihren Finanziers. Die Naturbezwinger wurden immer wieder von der Polarnacht in ihre Schranken verwiesen, ohne eine neue Handelsroute erschlossen zu haben. Aus den Tagebüchern und Logbucheinträgen melden sich in der Eiswüste wahnsinnig Gewordene, die im gleißenden, sich ständig verändernden Weiß den Sinn für Raum und Zeit verloren haben.

Doch nicht für lange entzogen sich die Pole dem menschlichen Vermessungs- und Kommodifizierungsdrang, der alles zu einer Ware machen will. Heute braucht es kaum noch die sowjetischen Eisbrecher, um an die Erdölvorkommen zu gelangen. Diese legen sich im exponentiellen Wechselspiel mit der Erderwärmung selbst frei – ein prägnantes Beispiel der „sich selbst beschleunigende[n] Zerstörungsdynamik der abstrakten Reichtumsproduktion“ (S. 74).

Um nicht die Naturschranke zu erreichen, auf die der wachstumsorientierte Kapitalismus unweigerlich zusteuert, fordert der von den Krisis-Autoren Ernst Lohoff und Norbert Trenkle herausgegebene Band „Shutdown – Klima, Corona und der notwendige Ausstieg aus dem Kapitalismus“ ein radikales Umdenken. Die Wirtschaft dürfte nicht mehr an der Vermehrung des Reichtums, also an der marxschen Formel „Geld – Ware – mehr Geld“, ausgerichtet sein, sondern an der „Herstellung nützlicher Dinge zur Befriedigung der konkret-sinnlichen Bedürfnisse aller Menschen“ (S. 9).

Es war der Tauschwert, nicht der Gebrauchswert

Der Sammelband analysiert in sechs Texten das krisenträchtige, kapitalistische System, in dessen Folge Pandemien und Umweltzerstörung die Notwendigkeit eines neuen Wirtschaftens vor Augen führen. Angesichts der „dynamischen Krisenlage“, die im Falle der Corona-Pandemie stetig betont wird, geht die Publikation das Risiko ein, schon veraltet zu sein, bevor sie überhaupt erschienen ist. Doch die Analysen rücken vom oberflächlichen Schein der kapitalistischen Alternativlosigkeiten schnell vor zu dem, was das System im Grunde bewegt. Innerhalb der Theorieströmung der Wertkritik, zu der die Autoren gehören, sind die vorgebrachten Grundlagen nicht neu, aber gegen die Idee eines grünen Kapitalismus bringen die Autoren die marxschen Begriffe und Erkenntnisse mit großer Klarheit in Stellung.

Bei der Produktion von Waren steht nicht die Herstellung von Gebrauchswerten im Vordergrund, sondern die Vermehrung von abstraktem Reichtum. Dass das hergestellte Produkt einen Nutzen hat, ist für den Wert der Ware zweitrangig, wichtig ist nur der sogenannte Tauschwert. „Was die kapitalistische Produktionsweise antreibt, ist der endlose Zwang, den abstrakten Reichtum zu vermehren, oder, einfacher ausgedrückt, der Zwang, aus Geld mehr Geld zu machen.“ (S. 60) Dieser Bewegung liegt ein gesellschaftliches Verhältnis zugrunde, in dem sich die „vereinzelten Einzelnen“ im Tausch beziehungsweise der Veräußerung ihrer Ware Arbeitskraft aufeinander beziehen. Vermittelt durch Geldbeziehungen stehen die Warensubjekte in einem Entfremdung produzierenden Zusammenhang, in dem der entpersonifizierte Kapitalismus auf alle als Zwang einwirkt. Versucht man so verstrickt in Akkumulationslogik und Lohnarbeitszwang auf die Klimakrise zu reagieren, gerät man in einen unauflösbaren Widerspruch, denn es bleibt „entweder aufgrund der ökologischen Zerstörung oder aus wirtschaftlicher Not zu sterben.“ (S. 9)

Abspaltung, Externalisierung, Othering

Reproduktionstätigkeiten fallen aus dieser Form der Vergesellschaftung heraus, was ihre Abwertung begründet, denn nur wertproduzierende Arbeit erhält Anerkennung. Während Kindergärten und Schulen in der Pandemie geschlossen waren, stellte sich die vergeschlechtliche Sphärenteilung schnell wieder ein und es wird stillschweigend angenommen, dass das Gros der Sorgearbeit (wieder) von Frauen übernommen wird. Darauf weisen Lothar Galow-Bergemann und Ernst Lohoff in ihrem Beitrag „Gestohlene Lebenszeit – Warum Kapitalismus zu Verzicht nötigt und wir viel weniger arbeiten könnten“ im Band hin. Die binäre Verteilung von Wertschätzung offenbarte sich in den letzten Monaten nicht nur in der privaten Sphäre, auch die prekären Arbeitsverhältnisse in der Pflege wurden stärker skandalisiert. In ihnen zeigt sich, wie patriarchale und kapitalistische Strukturen miteinander verwachsen sind und ein feministischer Kampf nicht ohne den Bruch mit der Produktion von abstraktem Reichtum geführt werden kann.

In seinem Beitrag „Verdrängte Kosten – Die Externalisierungslogik der kapitalistischen Reichtumsproduktion und deren Aufhebung“ begreift Norbert Trenkle diese Auslagerungsbewegung aus der produktiven Sphäre als ein Grundmotiv des Kapitalismus. Ein eingeschlossenes Außen, das wie zum Beispiel das Weibliche oder die Natur unter bedingungslose Verfügungsgewalt gestellt wird, kann angeeignet und ge-, beziehungsweise „vernutzt“ werden. Die Herrschaft des abstrakten Reichtums „folgt dem inneren Zwang, sich die gesamte Welt einzuverleiben und zum Material ihrer endlosen Selbstzweckbewegung zu machen, und zwar auch dann noch, wenn die Grenzen dieser destruktiven Expansion längst in greifbare Nähe gerückt sind.“ (S. 74)

Die Extraktion natürlicher Ressourcen und vor allem ihre Folgen spielen sich bislang besonders im globalen Süden ab. Wenn die Aneignung und Zerstörung der Natur die dort lebenden Menschen zur Migration zwingt, kommt schnell das Argument auf, die Welt sei überbevölkert. Dabei sind es „nicht nur zu viele, die da essen – es sind vor allem die Falschen“ (S. 144). Julian Bierwirth zeigt, wie jene zu Überflüssigen werden, die momentan die Folgen der kapitalistischen Expansions- und Wachstumsbewegung am intensivsten zu spüren bekommen. Sein Text „Vom leeren Land zum überflüssigen Menschen – Ideologiekritik in Zeiten von Corona- und Klimakrise“ verfolgt an historischen Beispielen das Aufkommen und die Rhetorik der Auslagerungsbewegungen im Kolonialismus bis zu seinen postkolonialen Nachwirkungen.

„So wie in der Frühphase des Kapitalismus die Menschen in den kolonialisierten Gebieten massenhaft versklavt oder umgebracht wurden, um den ‚Überflüssigen‘ aus den Zentren Platz zu machen und ihnen den Raum zu verschaffen für ihre ‚zivilisierte‘ kapitalistische Lebensweise, so werden nun die ‚Überflüssigen‘ in der Peripherie, die für die kapitalistische Verwertung nicht benötigt werden, nur noch als Ballast angesehen, der am besten beseitigt werden sollte.“ (S. 169)

Transformation statt Etatismus

Zunehmend werden die Auswirkungen dieser Vergesellschaftungsform auch im globalen Norden spürbar und ziehen die Frage nach sich, wie man jenseits des Wachstumszwangs wirtschaften soll. „Kann der Kapitalismus ohne seine extensiven Qualitäten weiterexistieren?“, fragen sich liberale Sozialwissenschaftler wie Harald Welzer und verkennen dabei, dass die Akkumulationslogik nicht abtrennbar, sondern das grundlegende Bewegungsprinzip des Kapitalismus ist. Dagegen fordern die Krisis-Autoren eine gesellschaftliche Organisationsform, die überhaupt erst aufgrund einer Reichtums- und Arbeitskritik vorstellbar wird. Gerade in einer Zeit, in der Viele die Macht des Staates anrufen, damit dieser vermeintlich schnelle Lösungen findet, gilt es radikal weiterzudenken:

„Deshalb ist es kein Luxus, sich gerade jetzt die emanzipative Aufhebung der kapitalistischen Reichtumsproduktion auf die Fahnen zu schreiben, sondern der einzig wirkliche Ausweg aus der Spirale der ökologischen Zerstörung, der sozialen Exklusion und der autoritären Formierung der Gesellschaft.“ (S. 88)

In den Nischen sozialer Bewegungen können Vergesellschaftungsformen jenseits der Tauschlogik gefunden werden. Gegen die gängige Aufforderung des individuellen Verzichts für das Klima, fordert der Sammelband im letzten Text das Ende des Verzichts. Mit der Überwindung des Lohnarbeitszwangs stünde den Menschen Lebenszeit zur Verfügung, um bedeutungsvolle soziale Beziehungen zu führen und kreative Potenziale zur Entfaltung zu bringen. Besonders bewegungsnah zeigt sich die Analyse trotz einiger eingestreuter Beispiele jedoch nicht. Ihre Stärke ist die Kritik, die sich gelungen gegen Staatsanrufer*innen und grüne Kapitalismusideolog*innen richtet.


Ernst Lohoff, Norbert Trenkle (Hg.): Shutdown. Klima, Corona und der notwendige Ausstieg aus dem Kapitalismus.
Unrast-Verlag, Münster – 2020, 200 Seiten
ISBN: 978-3-89771-292-8

Dieser Beitrag wurde am 11.01.2022 auf kritisch-lesen.deKooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer_innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.

Titelbild: Michael Held auf Unsplash

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