AktuellDemokratieDeutschlandFriedenGeschichte

Warum der „Tag der Befreiung“ ein „Tag der Erinnerung“ sein sollte – Teil 2

Der Tag des Kriegsendes am 8. Mai 1945 gilt heute als »Tag der Befreiung«, als Chiffre für den Beginn unserer Demokratie. Doch die «Stunde Null« ist auch Beginn des kollektiven Verdrängens und Vergessens der Verbrechen des Nationalsozialismus – und der stillschweigenden Integration der Täter in der Nachkriegszeit.

Von Helmut Ortner

Fortsetzung der Karrieren auch in der DDR

Freilich: Eine Vorbildfunktion in Sachen »Vergangenheits-Bewältigung« konnte auch für demokratisch gesinnte Westjuristen die DDR-Justiz nicht sein. Schließlich hatte es 1950 die »Waldheimer Prozesse« gegeben, ein Schnellverfahren, in dem im Stile der NS-Justiz zahlreiche Todesurteile gegen ehemalige Nationalsozialisten gefällt worden waren. Den Angeklagten wurden die elementarsten Rechte verweigert: Es gab weder eine Beweisaufnahme noch eine Verteidigung. Entlastungszeugen wurden nicht gehört, die Öffentlichkeit war nur in wenigen Schauprozessen zugelassen. Die meisten Waldheim-Angeklagten waren eher NS-Mitläufer als Täter. Doch dies interessierte die neuen DDR-Staatsanwälte und Richter nicht. Die häufigsten Vorwürfe lauteten auf »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »wesentliche Förderung« des Hitler-Regimes. Die Angeklagten wurden meist zu Zuchthausstrafen von zehn Jahren und mehr verurteilt, 24 Todesurteile wurden in der Nacht vom 3. auf den 4. November 1950 vollstreckt.

Aber nicht nur in den »Waldheim-Prozessen« hatte die »Sozialistische Einheitspartei Deutschlands« (SED) Regie geführt und die Justiz als verlängerten Machtapparat instrumentalisiert. Was sich in den Gerichtssälen des jungen »Arbeiter- und Bauernstaates« vollzog, waren – keineswegs nur in politischen Straftaten – häufig stalinistische Schauprozesse, die jeglicher Rechtsstaatlichkeit entbehrten. Die Angeklagten hatten kaum Rechte, eine freie Anwaltschaft gab es nicht, Staatsanwälte benutzten den Gerichtssaal als ideologische Tribüne, die Richter ließen sich von Partei und Staatssicherheit die Urteile vorbereiten und vorgeben. Mit einer unabhängigen Justiz hatte dies nichts zu tun.

„Die Strafjustiz sei eine politische Tat“, propagierte Hilde Benjamin, gnadenlose Richterin in zahllosen Schauprozessen. Mit Dr. Ernst Melzheimer, Erster Generalstaatsanwalt der DDR (der als Kammergerichtsrat bereits der NS-Justiz gute Dienste geleistet hatte), gehörte sie zu den besonders fanatischen Vollstreckern der SED-Dogmen. Angeklagte schrie und brüllte sie nieder – nicht anders, als Jahre zuvor mit Angeklagten vor dem Volksgerichtshof verfahren wurde. Hilde Benjamin empfahl sich mit ihren Terror-Urteilen für größere Aufgaben: Sie wurde (bis 1967) DDR-Justizministerin.  Diese DDR-Justiz konnte also weder Vorbild noch Partner für die westdeutsche Justiz sein. Ein Glück für viele ehemalige NS-Täter, deren Akten in der DDR lagerten und die sich im Westen deshalb unbesorgt ihrer Nachkriegslaufbahn widmen konnten.

Die große Integration der Täter  

Die verhinderten Ermittlungen, das großzügige Verständnis, die laxen Urteile, die zahllosen Freisprüche – das alles war charakteristisch für die Nachkriegsjustiz, vor allem dann, wenn es sich um die Tätigkeit von  Kollegen handelte. Die Formel des »mangelnden Unrechtsbewusstseins« wurde für die ehemaligen nationalsozialistischen »Rechtswahrer« zum Blankoschein. Auf die Solidarität ihrer Richterkollegen konnten sie ohnehin zählen: Ein ausgeprägter Korpsgeist garantierte dafür. Und deren Friedfertigkeit fand durchaus die Zustimmung der meisten Deutschen. Die Justiz gab sich insofern durchaus volksnah. Das Ausbleiben der strafrechtlichen Sühne für richterliche Verbrechen war nur Teil des großen kollektiven Verdrängungsvorgangs. Nicht nur innerhalb der Justiz. 

Ob Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Verwaltung: alle Namen der braunen Täter und Schreibtischtäter zu nennen, die in der Adenauer-Republik rasch wieder Schlüsselstellungen einnahmen und ihre Karrieren fortsetzten – es bräuchte eine mehrbändige Enzyklopädie der umfassenden »Integration der Täter«. 

Die meisten Deutschen wollten von der Vergangenheit nichts mehr wissen, ganz im Sinne ihrer gewählten Volksvertreter. Nicht nur Adenauer in den Fünfzigerjahren, auch danach hatten westdeutsche Politiker mit griffigen Formulierungen ihre Landsleute immer wieder dazu aufgefordert, doch mit der »ewigen Vergangenheitsbewältigung« abzuschließen. So Franz-Josef Strauß, der schon früh darin eine »gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe« erkennen wollte und feststellte, die Deutschen seien »eine normale Nation, die das Unglück hatte, schlechte Politiker an der Spitze ihres Landes zu haben«. Hitler als Betriebsunfall? Er und viele andere appellierten an die Deutschen, »aus dem Schatten Hitlers herauszutreten«. Lautstark propagierten sie die »Deutschland-als-Opfer«-Version, in der sich alle mit allen versöhnen sollten – so, als habe es kaum Täter und Taten gegeben, sondern einzig und allein Opfer. Die Deutschen als ein Volk von Betrogenen?

Die geschichtskittende Formel, die Deutschen seien »Hitlers Opfer« gewesen, das Dritte Reich ein Werk einer Bande von Verbrechern – das war zwar eine seltsame, aber durchaus entlastende Variante, die keineswegs nur konservativen Politikern als Selbstrechtfertigung diente.

Bald galten ehemalige SS-Männer wieder als anständige Leute, konnten KZ-Schergen sich auf »Befehlsnotstand« berufen, hieß das neue Nationallied der Deutschen: »Wir haben nichts gewusst.« Und es gab noch immer Rechtfertigungen. »Nicht alles, was war, war falsch gewesen«, so dachten – kaum waren die Trümmer des NS-Regimes zur Seite geräumt – viele, ja die meisten Deutschen.

Selbst in wenigen – meist sich mühsam hinschleppenden NS-Prozessen, etwa den Prozessen gegen Schergen der Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek, wo Hunderttausende ermordet worden waren, zeigten die Justizbehörden und Gerichte nur geringes Interesse an der Verfolgung und Verurteilung der Schuldigen. Gerade diese großen Nachkriegsprozesse gerieten häufig in strafprozessualer Hinsicht zur Farce. Den Angeklagten waren Morde, zwingende Voraussetzung für eine Verurteilung, kaum nachzuweisen. Da existierten keine Zeugen mehr, da beriefen sich die Täter immer wieder auf Befehle. Eine Richterschaft sprach wieder Recht, die NS-Täter mit besonderer Nachsicht behandelten, vor allem bei der Strafzumessung. Nicht selten dauerte es Jahre, bis überhaupt ein Urteilsspruch gefällt werden konnte. 

Aber nicht nur KZ-Schergen konnten mit Nachsicht rechnen. Das zweifelhafte 131-Gesetz, das der Bundestag 1951 mit großer Mehrheit verabschiedet hatte und das auch das Bundesverfassungsgericht eine »soziale Tat« nannte, garantierte ehemaligen Nationalsozialisten die Wiederverwendung in bundesdeutschen Behörden, zumindest jedoch eine ordentliche Pension. Die Folge: Ob in Wirtschaft oder Industrie, an Universitäten, in der Bundeswehr oder der Justiz – überall saßen »bewährte Fachkräfte« der untergegangenen Nazi-Diktatur in leitenden Positionen. 

Während das 131-Gesetz von Beginn an mit Eifer angewandt worden war, hatte man es mit der »Wiedergutmachung« der Opfer nicht sehr eilig. Erst fünf Jahre nach dem 131-Gesetz wurde ein »Bundesentschädigungsgesetz« geschaffen, das allen Antragstellern eine peinliche Prozedur zumutete. Aus Mangel an Durchführungsbestimmungen konnten die Opfer der Nazis nur dann Zahlungen erhalten, wenn sie nachwiesen, dass sie keine Straftaten begangen, keiner Gewaltherrschaft Vorschub geleistet, keine Grundsätze der Vereinten Nationen und des Völkerrechts je verletzt – und keiner Nazi Organisation angehört hatten. Vergleichbares mussten die wieder eingestellten und gut versorgten Nazi-Beamten nicht nachweisen, die »131er«waren völlig unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage zu versorgen. Wer im Entnazifizierungsnetz dennoch hängengeblieben war, hatte einen Entzug seiner Beamtenrechte nicht zu befürchten. Auch wurden Ernennungen und Beförderungen in der Zeit von 1933 bis 1945 berücksichtigt, freilich mit Einschränkungen: Ausschlaggebend war keineswegs die Unterzeichnung eines Todesurteils, sondern die Tatsache, ob während dieser Zeit gegen beamtenrechtliche Vorschriften verstoßen worden war.

So ging eine ganze Juristengeneration wohlversorgt in den frühzeitigen Ruhestand. Täter in Roben, die sich frei von Schuld fühlten und ihre nationale – und häufig auch persönliche – Vergangenheit für »bewältigt« hielten. So wurde der »Niedergang des Rechts nicht verarbeitet, sondern vergoldet«, wie es Rolf Lamprecht im Spiegel sarkastisch formulierte.

»Die Maschine soll wieder laufen« 

»Die Maschine soll wieder laufen«, hatte Adenauer gesagt. Und sie lief. Der Publizist Ralph Giordano hat in seinem Buch Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein die umfassende kollektive Verdrängung der NS-Vergangenheit eindrucksvoll beschrieben, also das sozialpsychologische Fundament der Aufbauleistung der Adenauer-Republik. Die geschichtsfälschende Formel »Wir waren Hitlers Opfer« hatte nicht allein in den Zeiten der Entnazifizierung Gebrauchswert für ehemalige Parteigänger und Gefolgsleute. Beinahe alle Deutschen sahen sich als Opfer. Keiner wollte mehr Täter gewesen sein, niemand den Tätern Hilfe geleistet, zugesehen und weggesehen haben. Alle waren nun mehr Opfer. Opfer der Zeit, Opfer der Partei, Opfer Hitlers und so weiter und so weiter. Ein Volk der Opfer. Adenauer unterstützte die Deutschen in dieser Schutzhaltung. Das große »Wiedereingliederungswerk der Täter« (Giordano) konnte so ohne erwähnenswerte Proteste stattfinden.

Nach dem Krieg wollte niemand die Erblast des Unrechts tragen – und kaum einer musste sie tragen. Die juristische Komplizenschaft mit den Nazis »schrumpfte zum Kavaliersdelikt, wenn ihr nicht nationalsozialistische Gesinnung, sondern die deutschnationale Überzeugung zugrunde lag«, wie der Bremer Jurist Ingo Müller treffend feststellte. So konnten Legenden geboren, »halbe« Widerstandskämpfer propagiert und eine belastete Justiz freigesprochen werden. Die historische Gedächtnislosigkeit wurde zum Erkennungsmerkmal eines ganzen Berufsstandes.

Sicherlich: In den zurückliegenden Jahren erschienen zahlreiche erhellende Bücher und Forschungsarbeiten, die sich mit der zweifelhaften Rolle zahlreicher Funktionsträger und mit eine Vielzahl politischer und gesellschaftliche Institutionen im Dritten Reich kenntnisreich und kritisch auseinandersetzen, auch entwickelten tragende Ansätze für eine neue demokratische Rechtskultur vor allem in den Siebzigerjahren, die an die verschütteten Rechtstraditionen Deutschlands anknüpften. Die Justiz, die parlamentarischen und behördlichen Institutionen von heute sind rechtsstaatlich gefestigt. Wir leben in einem Rechtsstaat.

Die Zeit für strafrechtliche Sühne der Belasteten ist verstrichen. Die meisten der braunen Täter in Robe leben nicht mehr, und die letzten überlebenden Greise, die in den letzten Jahren vor Gericht gestellt wurden, konnten die Versäumnisse und das Versagen der Nachkriegsjustiz nicht ausgleichen, sie sind Beleg einer skandalösen Verspätung.

Der 8. Mai – ein »Tag der Erinnerung«

Sechs Jahre Krieg, Wahn und Barbarei. Mehr als 60 Millionen Tote. Das Ende. Der Holocaust, der Zivilisationsbruch. Wie mit dieser Vergangenheit in der Gegenwart zurechtkommen?  In der westdeutschen Erinnerungskultur galt der 8. Mai 1945 dennoch mehrheitlich als Chiffre der eigenen Niederlage und war Jahrzehnte vor allem mit den negativen Folgen assoziiert: Zusammenbruch, Vertreibung, Besatzung, deutsche Teilung und Verlust von Heimat. Ein Volk mühte sich, das zu vergessen, was es verschwieg: seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. Verschweigen. Verdrängen. Vergessen. 

Erst seit den 1960er- und 1970er-Jahren begann sich das langsam zu wandeln, Gustav Heinemann (SPD) hielt 1970 als erster Bundespräsident eine Rede zum 8. Mai. Als erste Bundesregierung äußerte sich 1970 auch die sozial-liberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) mit einer offiziellen Regierungserklärung zum Jahrestag. Den Begriff der Befreiung bezog er dabei jedoch explizit auf andere Völker. Gleichzeitig hob er jedoch hervor, dass auch für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung die „Chance zum Neubeginn, zur Schaffung rechtsstaatlicher und demokratischer Verhältnisse“ erwuchs.

Zu einem erinnerungspolitischen Wendepunkt wurde die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahr 1985. Der 8. Mai, so führte von Weizsäcker im Deutschen Bundestag aus, sei für jene, die ihn erlebt haben, mit unterschiedlichen Erfahrungen verknüpft. Doch mit der Zeit sei der Blick klarer geworden auf das, was der Tag für die Gesellschaft als Ganzes bedeute: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Von Weizsäcker entband die Deutschen jedoch nicht von ihrer individuellen Verantwortung. „Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für die Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte“. Er betonte, dass das Gedenken an den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933, dem Tag der nationalsozialistischen Machtergreifung, getrennt werden könne – und: die Verbrechen der Deutschen dürften nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt werden. Weizsäckers Rede fand nicht nur Zustimmung: So beschwerte sich der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß über die »ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe«. Viele Deutsche stimmten ihm zu. 

Kann persönliche Schuld verjähren? Nein, sagt Alfred Grosser, der im Vorjahr verstorbene französisch-deutsche Historiker und Publizist. Denn „das vergangene Geschehen ist keineswegs abwesend in der Gegenwart, nur weil es vergangen ist“. Der 8. Mai 1945, etikettiert als »Tag der Befreiung«, jährt sich zum 80. Mal. Wir sollten ihn als »Tag der Erinnerung« würdigen.


Buchtipp: Helmut Ortner – VOLK IM WAHN. Hitlers Deutsche oder: Von der Gegenwart der Vergangenheit, Edition Faust, 296 Seiten, 22 Euro

Zitate:

»Die Deutschen fühlten sich durch die Niederlage schon genug bestraft. Schuldbewusstsein, Sühnebedürfnis oder Scham hatten keinen Platz.«

»Nach dem Krieg wollte niemand die Erblast des Unrechts tragen – und kaum einer musste sie tragen.«

»Ein Volk mühte sich, das zu vergessen, was es verschwieg: seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. «

Titelbild: Monument to the Ghetto Heroes, Warsaw, Poland / Pudelek Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0


DANKE, DASS DU DIESEN BEITRAG BIS ZUM ENDE GELESEN HAST!

Unsere Zeitung ist ein demokratisches Projekt, unabhängig von Parteien, Konzernen oder Milliardären. Bisher machen wir unsere Arbeit zum größten Teil ehrenamtlich. Wir würden gerne allen unseren Redakteur*innen ein Honorar zahlen, sind dazu aber leider finanziell noch nicht in der Lage. Wenn du möchtest, dass sich das ändert und dir auch sonst gefällt, was wir machen, kannst du uns auf der Plattform Steady mit 3, 6 oder 9 Euro im Monat unterstützen. Jeder kleine Betrag kann Großes bewirken! Alle Infos dazu findest du, wenn du unten auf den Button klickst.

Unterstützen!

Artikel teilen/drucken:

Ein Gedanke zu „Warum der „Tag der Befreiung“ ein „Tag der Erinnerung“ sein sollte – Teil 2

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..