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Sonntag ist Büchertag: Wenn Ängste zu Weltliteratur werden

Manfred Koch gelang mit „Rilke – Dichter der Angst“ eine großartige Biografie über einen der größten Dichter des 20. Jahrhunderts.

Von Urs Heinz Aerni

Cover „Rilke – Dichter der Angst“ (c) C.H. Beck Verlag

Urs Heinz Aerni: Der aus Prag stammende Rainer Maria Rilke feierte in diesem Jahr einen runden Geburtstag. Sein literarisches Werk wurde gewürdigt unter anderem durch mehrere Biografien. Was hat Sie veranlasst, ihm ein 560-Seiten starkes Buch zu widmen, das ich – so unter uns – als die herausragendste Biografie sehe?

Manfred Koch: Ich beschäftige mich schon seit mehr als 40 Jahren mit Rilke, habe über ihn promoviert und viele Aufsätze über ihn geschrieben. Als sich nach meiner Emeritierung an der Universität Basel vor drei Jahren abzeichnete, dass 2025 und 2026 gleich zwei Gedenkjahre anstehen würden – 150. Geburtstag und 100. Todestag – dachte ich, jetzt hast du Zeit, Lust und Gelegenheit, so etwas wie ein Resümee deiner Auseinandersetzung mit diesem Dichter vorzulegen.

Aerni: Sie schreiben nahe an seinem Leben und doch mit der nötigen Distanz. Empathisch und doch mit Überblick, bestückt mit vielen lesenswerten Auszügen und Zitaten aus den Schriften Rilkes. Wie dürfen wir uns das Vorgehen der Auswahl der Texte vorstellen?

Koch: Die Distanz war bei mir immer da; ich schreibe gleich im Vorwort, dass ich als Student Rilke anfangs nicht mochte. Die Gedichte kamen mir zu süßlich, zu gefühlig, zu manieriert vor. Erst durch die Lektüre des Romans Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge habe ich einen Zugang bekommen und in der Folge auch das lyrische Werk Rilkes immer mehr schätzen gelernt. Wobei „schätzen“ fast zu schwach ausgedrückt ist: ich fand immer mehr Gedichte wirklich mitreißend und würde heute sagen, dass er ein sprachmusikalischer Zauberer ist, wie es nur wenige in der Weltliteratur gibt. 

Aerni: Was wohl dazu führte, dass die Auswahl der Texte zur Qual wurde?

Koch: Was die Auswahl der Texte für die Biographie angeht, habe ich versucht, eine Balance zwischen „greatest hits“ wie Der Panther oder Duineser Elegien und weniger bekannten Gedichten und Prosastücken zu schaffen. Aber viele Rilke-Texte, die ich ursprünglich in kurzen Interpretationen besprochen habe, musste ich auch wieder rausnehmen, weil die Biographie sonst noch dicker geworden wäre. Oder eben zu akademisch, denn man muss ja auch auf ein Gleichgewicht von biographischer Erzählung und Ausführungen zum Werk achten.

Aerni: Das schriftstellerische Leiden im Leben von Rilke wird da und dort immer wieder belächelt, als das Klischee des berühmten «Weltschmerzes» auf den Schultern von Dichtern. Zu Unrecht? Oder würde der Befund heute «Hochsensibilität» lauten?

Koch: Es gibt ein witziges Gedicht von Robert Gernhardt, das ich ursprünglich zitieren wollte, über dieses Klischee des „poeta dolens“, des leidenden Dichters. Es heißt Der Dichter und beginnt: „Abends zählt er seine Leiden,/ tut sich an dem Vorrat weiden,/ wählt eins aus, bedichtet es,/ und das Dichten richtet es.“ 

Aerni: Herrlich. Also eine Bestätigung eines Klischees?

Autor Manfred Koch (c) Angelika Overath

Koch: Die Selbststilisierung zum schlechthinnigen Schmerzensmann muss man auch bei Rilke selbstverständlich hinterfragen. Aber wenn Rilke sagte, es sei für ihn vor allem darauf angekommen, aus dem „Furchtbaren“ – sprich: seinen schlimmen psychischen Krisen, seinen Angstzuständen – das „Fruchtbare“ zu gewinnen, muss man das doch auch sehr ernst nehmen. Er wurde tatsächlich erst zum Autor von weltliterarischem Rang durch eine ans Pathologische grenzende Verstärkung seiner extremen Sensibilität.

Aerni: Zustand generiert Poesie…

Koch: Auf den Punkt gebracht: Er wurde als Autor immer besser, je kränker er wurde. In Bezug auf die Angst, sein Hauptthema, lässt er seinen Romanhelden Malte einmal sagen, er habe sich „fürchten gelernt mit der wirklichen Furcht, die nur zunimmt, wenn die Kraft zunimmt, die sie erzeugt“.  Diese Erfahrung, dass die zerstörerische Gewalt der Angst die Kraft des Schreibens verstärken kann, steht hinter Rilkes andauernder Forderung, das „Schlimme“, „Grausame“ nicht zu verdrängen, sondern sich ihm zu stellen, es zu „überstehn“ in der Hoffnung, dass daraus die treibende Kraft des literarischen Schreibens wird. 

Aerni: Für uns heute Lesende ist es beeindruckend, wie Rilke während der Wende 19./20. Jahrhundert quer durch Europa reiste und ein Netzwerk pflegte, bestehend aus Kulturschaffenden vieler Künste. Es ist ein Getriebensein, aber auch die Suche nach Stoffen für die literarische Kreativität. Sie leben in Sent, in Graubünden. Wie haben Sie es mit dem Reisen?

Koch: Im Unterschied zu meiner Frau, der Schriftstellerin Angelika Overath, die sehr viele Reisereportagen geschrieben hat, bin ich eher ein Sesshafter. Im hintersten Winkel der Schweiz zu wohnen, hat für mich immer etwas Beruhigendes gehabt. Ich habe gut verstanden, warum Rilke sich in seinen letzten Lebensjahren in einen abgelegenen Winkel des Wallis zurückgezogen hat. Für die Biographie wollte ich ursprünglich aber viel reisen, ich wollte viele Rilke-Ort, wo ich noch nie war – Worpswede, Südschweden, Toledo und Ronda in Spanien, Ägypten u.a.m. – aufsuchen. 

Aerni: Und?

Koch: Dazu kam es dann leider nicht, weil ich so langsam vorankam, dass ich zuletzt doch an den heimischen Schreibtisch in Sent gefesselt blieb, um das Buch rechtzeitig fertigzustellen.

Aerni: Rilkes Leben ist verbunden mit der Schweiz, wie Zürich, Winterthur, Tessin, Basel, aber auch Graubünden mit Aufenthalten in Sils Maria, im Bergell und Soglio. Rilkes Leben mündete aber, wenn man so sagen darf, durch den Tod im Wallis…

Koch: Einmal kommt in seinen Briefen sogar meine Heimatgemeinde das bündnerische Scuol vor – noch unter dem deutschen Namen „Schuls“. Sein Verleger Anton Kippenberg machte anfangs der 1920er Jahre eine Kur in Vulpera-Tarasp, Rilke war zur gleichen Zeit in Bad Ragaz und dachte naiverweise, dass es nur ein Katzensprung von da ins Unterengadin sei, weshalb er Kippenberg einen Besuch versprach. Irgendjemand hat ihn dann darauf hingewiesen, wie lange die Bahnfahrt dauern würde, darauf machte er einen Rückzieher. Aber gerade Ragaz wurde Rilke in seinen letzten Lebensjahren zu einem seiner liebsten Orte. Wenn ihm sein Wohnturm bei Sierre und das Wallis überhaupt zu abgeschieden und zu spröde vorkamen, ging er nach Ragaz.

Aerni: Was sich auch literarisch auswirkte?

Koch: Einer seiner schönsten Prosatexte handelt von einer Wanderung durch die Tamina-Schlucht, die er gemeinsam mit seiner Schweizer Gönnerin Nanny Wunderly-Volkart unternahm. Der andere Graubündner Schlüsselort für Rilke war 1919, gleich nach der Einreise in die Schweiz, Soglio im Bergell. Dort entstand sein Essay Urgeräusch, ein kühnes Gedankenexperiment über die Möglichkeit, Linienführungen in der Natur wie die „Kronennaht“ des menschlichen Schädels, aber auch die Konturen von Bergrücken oder tieferliegenden Gesteinsschichten mit der Nadel eines Phonographen oder eines Grammophons abzufahren, um sie zum Klingen zu bringen. Die Erde als gigantischer Tonträger – eine großartige Phantasie!

Aerni: Es berührt, wie Sie die komplexe Welt der Angst von Rilke dokumentieren, aber auch, wie wichtig Frauen für sein Leben waren, vielleicht auch als Fluchtorte für seine Gefühle, die die Männerwelt nicht verstand?

Koch: Sein Freund Rudolf Kassner, wohl der einzige Mann, der für Rilke wirklich ein Freund war, meinte einmal über ihn: „Er sah den Mann nicht ein.“ Seine Seele habe „ein Mädchenkleid“ hat Rilke selbst über sich gesagt. Immer wieder hat er betont, dass sein Dichten eigentlich eine weibliche Aktivität sei. Das heißt vor allem, dass es nicht auf einen entschlossenen, „männlichen“ Willen zurückgehe, sondern sich eher einer passiven „weiblichen“ Aufnahmebereitschaft, einem „mädchenhaften“ Sensorium verdanke. „Rilke und die Frauen“ ist seit geraumer Zeit ein Lieblingsthema der Rilke-Biographik, das oft leider auch mit einem gewissen schlüpfrigen Voyeurismus behandelt wird. Mir kam es vor allem darauf an, den Lesern und Leserinnen zu vermitteln, was er meinte, wenn er von einem „inneren Mädchen“ als seiner eigentlichen kreativen Kraft sprach.

Aerni: Herr Koch, Sie stammen aus Stuttgart, wirkten an Universitäten in Gießen, Tübingen und Basel und leben jetzt im beschaulichen Engadin. Gut so?

Koch: Ja, sehr gut sogar! Wie vorher schon erwähnt, lebe ich, obwohl in einer Großtadt aufgewachsen, sehr gern in einem Bergdorf 1400 Meter ü.M. Es ist ein unglaubliches Privileg, eine Rilke-Biographie an einem Schreibtisch zu verfassen, der vor einem großen Fenster mit Ausblick auf die Lischana-Gruppe, den Piz S-chalambert und den Piz Pisoc steht, die fast das halbe Jahr lang mit Schnee bedeckt sind. Das ist für mich schon die wahre „Beschaulichkeit“.

Aerni: Sie geben auch Kreatives Schreiben. Vielleicht noch zum Schluss für alle Schreibwilligen: Nennen Sie uns drei Werkzeuge, die helfen, das Schreiben bunt werden zu lassen?

Koch: Da muss ich als erstes ein Motto zitieren, auf das sich viele Schreibkurse völlig richtig berufen:

Erstens: „Show, don’t tell!“ Kommentieren, erläutern, verdeutlichen, werten Sie nicht zu viel, wenn Sie von etwas erzählen oder es bedichten, sondern lassen Sie die Dinge für sich sprechen. Rilke nannte das „sachliches Sagen“ und meinte damit eine Beobachtungs- und Schreibtechnik, die die Dinge nicht zum Anlass nimmt, sofort die spontanen Gefühle des Ich auszubreiten, sondern alles Subjektive ganz ins Gegenständliche verlegt, es aus den Details des beschriebenen Gegenstands aufsteigen lässt.

Dann zitiere ich gerne noch meine Frau, die Schreiblehrerin, die im Kurs immer ein Blatt mit dem Titel Götter und Gifte austeilt, also: Was soll man unbedingt vermeiden und was beherzigen?  Zu beherzigen ist vor allem noch zweierlei:

Zweitens: Schreiben Sie mit allen Sinnen!

Drittens: Suchen Sie Reibung, Gegensätzlichkeit, Spannung in Ihren Text zu bringen, kreieren Sie Momente des Umschlags, der Überraschung, der unerwarteten Bilder! 


Manfred Koch, geb. 1955 in Stuttgart, hat bis 2021 an den Universitäten Gießen, Tübingen und Basel deutsche Literaturgeschichte unterrichtet. Zusammen mit der Schriftstellerin Angelika Overath führt er eine Schule für Kreatives Schreiben in Sent, seinem Wohnort im Engadin.

Das Buch: „Rilke – Dichter der Angst„, Biografie von Manfred Koch, 560 Seiten mit 30 Abbildungen, C.H. Beck Verlag, 2025

Das Interview erschien zum ersten Mal in der Zeitung „Bündner Woche“ in Chur.

TitelbildLeah Newhouse / Pexels


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