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I can’t breathe – Über moralischen Rückschritt und Fehler im System

In seinem neuen Beitrag äußert sich Florian Maiwald zu den jüngsten Ereignissen im Hinblick auf den tragischen Tod von George Floyd und warum es an der Zeit ist darüber nachzudenken, dass uns Phänomene wie ein derartig systemimmanenter Rassismus immer noch begleiten.

Der Tod von George Floyd versetzt nicht nur die USA, sondern die ganze Welt in Aufruhr. Gewaltsame Proteste überziehen die USA und es entbehrt jeglicher Form der Übertreibung zu behaupten, dass man im Angesicht der derzeitigen Situation schlicht und weg nicht weiß, was man sagen soll.
Die moralische Verwerflichkeit des gesamten Vorfalls tritt umso deutlicher zutage, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich der Fall Floyd in einer Reihe von weiteren Fällen brutaler von Rassismus geprägter Polizeigewalt im 21. Jahrhundert einreiht – und damit sind selbstverständlich nicht nur die USA gemeint.

Garniert wird diese groteske Show immoralischer Perversion von Trump höchstpersönlich, wenn er sich mit einer Bibel vor der St. John’s – Kirche ablichten lässt, um evangelikalen Extremisten seine Solidarität zu bekunden (sollte man derzeit nicht eher anderen die eigene Solidarität schenken?).

William J. Barber II und Jonathan Wilson-Hartgrove stellen in einem Beitrag der Washington Post treffend fest, dass das Paradox – und damit die moralische Verwerflichkeit von Trumps Akt, darin besteht, christliche Glaubensinhalte (dieser Aussage kann man sowohl als gläubiger Christ, als auch als Atheist zustimmen) gegen sich selbst ausspielt. Und zu allem Überfluss gehen seine angeblich gläubigen Anhänger diesen Weg mit. Aber ohne zu sehr – so notwendig es auch ist – auf weitere moralische und intellektuelle Unzulänglichkeiten Trumps einzugehen, ist es dennoch notwendig die gesamte Situation aus einer Meta-Ebene zu betrachten.

In einem Essay beim Daily Beast hat Hollywoodstar George Clooney das Phänomen des Rassismus mit einem Virus verglichen. Und in der Tat ist an dieser Behauptung etwas Wahres dran. Im Hinblick auf die Covid-19 Pandemie habe ich es oft als allzu absurd empfunden, wie eine derartig kleine Entität – welche nicht einmal einen Stoffwechsel besitzt, geschweige denn als Lebewesen bezeichnet werden kann – eine derartig hoch entwickelte Spezies wie den Menschen, welcher für das Zeitalter der Aufklärung, die Industrialisierung und den allgemeinen wissenschaftlichen Fortschritt verantwortlich ist, in einen Ausnahmezustand derartigen Ausmaßes befördern kann. In genau der gleichen Weise verhält es sich mit dem Rassismus, denn im Grunde genommen ist dieser nichts anderes als ein Virus (im übertragenen Sinne). Wie schaffen es derartig niedere, menschenverachtende Gedankengänge ein in epistemischer Hinsicht derartig hochentwickeltes Wesen wie den Menschen zu befallen?

Zunächst scheint es wichtig ein nicht allzu optimistisches Bild von den menschlichen Errungenschaften der Vergangenheit zu haben. Denn das Zeitalter der Aufklärung war beispielsweise zunächst ein genuin europäisches Phänomen. Während auf dem europäischen Kontinent die Autorität des Glaubens zunehmend durch die Autorität der Vernunft ersetzt wurde, haben die europäischen Konquistadoren Völkern anderer Kontinente diese Rechte nicht zugestanden und gnadenlos ausgebeutet. Die zunehmende Industrialisierung hat den Klimawandel verursacht.

Es scheint mehr denn je notwendig – um in hegelianischer Manier zu sprechen –, dass jedes Ereignis seine Dialektik hat. Jede These sieht sich mit einer Antithese konfrontiert. Die Antithese zu dem gegenwärtigen System sind unter anderem Polizeigewalt und die derzeitigen Proteste. Aber zu jener Antithese gehören auch steigende Armutszahlen, Menschen die gezwungen sind ihre Länder zu verlassen und (in Ländern wie den USA), fehlende Krankenversicherungen etc.

Der britische Philosoph und Vordenker des modernen Liberalismus, John Stuart Mill, hat einst in seinem Werk On Liberty (1859) dafür plädiert, dass man dem Menschen ein größtmögliches Maß an Freiheit einräumen sollte, damit dieser seine Individualität entwickeln kann. Die Vielfalt an Individuen und die Pluralität an Lebensformen, so Mill, führen zu einem gesellschaftlichen und letztendlich auch moralischen Fortschritt. Und zweifelsohne liegt Mill richtig. Auch unserer Moral, wenn auch nicht unter den gleichen paradigmatischen Rahmenbedingungen wie in den Naturwissenschaften, sollten wir ein gewisses Fortschrittspotenzial einräumen.

Aber ist moralischer Fortschritt überhaupt möglich, wenn jede neue Errungenschaft (These) ihre Antithese mit sich bringt? Man könnte natürlich versucht sein die gegenwärtigen Proteste als Antithese aufzufassen welche letztendlich zu einer besseren Welt (Synthese) ohne Rassismus, Diskriminierung und anderen moralischen Gräueltaten führt.

Ich möchte an dieser Stelle jedoch eine gewagte Behauptung aufstellen und sagen, dass wir Hegels Dialektik zwischen These, Antithese und Synthese vielleicht gänzlich aufgeben sollten. Jedes richtige System sollte – zumindest in moralischer Hinsicht- auf eine derartige Dialektik nicht mehr angewiesen sein. Hier schließe ich mich lieber J.S. Mill an, indem ich behaupte, dass moralischer Fortschritt möglich ist.

Die nächste Form des moralischen Fortschritts wäre es, wenn wir derartige Antithesen nicht mehr benötigen. Wenn all die friedlichen Demonstranten nicht mehr mit extremistischen Zerstörungswütigen und Plünderern in einen Topf geworfen werden, welche die Gunst der Stunde nutzen. Wenn all die rechtschaffenden Polizisten in den USA und auf der ganzen Welt sich nicht mehr öffentlich mit einigen moralisch verkommenen Subjekten, welche es in den Polizeidienst geschafft haben, auf eine Stufe setzen lassen müssen. Wenn es jeden Menschen in ökonomischer Hinsicht so gut geht, dass die Gefahr zu gefährlichen Populismus nicht mehr gibt. Wenn kein Mensch mehr aufgrund seiner Herkunft mit Diskriminierung oder gar mit Lebensgefahr rechnen muss. Wenn Menschen nicht mehr sagen müssen, dass sie nicht mehr atmen können. Denn in einem richtigen System gibt es keine systemimmanenten Fehler. In einem richtigen System können wir alle atmen.

Florian Maiwald (27) studiert Philosophie, Englisch und Bildungswissenschaften im Master an der Universität Bonn und betreibt den Philosophie- Blog „Meta-Ebene“.

Titelbild: RJA1988 auf Pixabay


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