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Washington-Wien-Wahl

In der letzten Folge der Serie zu Demonstrationen kehren wir an den Anfang zurück: Es geht um elementare Menschen- und BürgerInnenrechte. Unsere Bitte des Tages: Gehen Sie wählen!

Donnerstagabend, halb sieben, Heldenplatz. TouristInnen machen ihre obligatorischen Fotos von dem Balkon. Sie wissen wahrscheinlich eh nicht, was der Balkon für dieses Land bedeutet. Ob der vermutlich nächste Präsident sich auch von diesem Balkon aus feiern lassen wird? Hat ja alles nichts miteinander zu tun, wird er sagen, Kornblume hin, Jerusalem-Reise und Burschenschaft her. Die Kundgebung gegen Norbert Hofer, die Motivation für diese kleine Serie ist, enttäuscht. Es sind die üblichen bekannten 500-600 Gesichter, die sich am Ballhausplatz einschwören, dieser sozialfeindlichen, rassistischen Politik von rosa bis blau nicht nachgeben zu wollen. Ihr Kampfgeist ist ungebrochen. Aber wo sind alle anderen? Wo sind jene Salonlinke, die im Web seit Tagen die Diktatur heraufbeschwören? Ich muss an die Rede von Nazar beim DIF 2015 denken. Alle sollten mal für ihre Positionen einstehen, auf die Straße gehen. Dieses Recht sei nicht selbstverständlich.

 

Mittelmeer

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Bwag: Besetzung der Wiener Votivkirche durch Flüchtlinge (Asylwerber) und Antifa-Aktivisten im Dezember 2012. CC-BY SA 3.0 AT

Dazu muss man nicht einmal in sein Heimatland, den Iran, schauen. Vergangenen Advent versuchten wir mit dem Asylkalender, mit Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen aufzuräumen. Unserer Redaktion war es ein besonderes Anliegen, diesen sachlich zu begegnen, mit Statistiken, alternativen Gedanken, das Asylrecht zu verteidigen, wenn vorläufig auch nur medial.

Seit Jahren sind Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Das Mittelmeer ist zwischen dem Maghreb und Europa längst ein Massengrab. Von London bis Ljubljana macht „die Mitte“ mit bei Residenzpflicht, „Das Boot ist voll“-Parolen, Ausgrenzung. Dieses Klima ermöglicht die Operation Spring, schiebt die Verantwortung an Griechenland, Italien und Spanien ab. Es tötet Omofuma, Adriano und Jalloh. Es gebärt und deckt die Terrortruppe NSU. 2012 haben in Deutschland und Österreich AsylwerberInnen genug davon, sie fordern ihre Menschenrechte ein. Inspiriert von Protestcamps in der Bundesrepublik machen sich im Winter 150 junge Flüchtlinge, vor allem Männer, von Traiskirchen auf zu einem Protestmarsch nach Wien. Sie fordern eine würdige Unterbringung, bessere Übersetzungen, eine schnellere Abwicklung ihrer Verfahren, sie wollen Arbeit. Auf dem Ring demonstrieren Studierende aus Wien mit ihnen, aber das ist nicht genug: Einige Männer richten ein Protestcamp bei der Hauptuni ein. Als Gespräche mit dem BM.I scheitern, besetzen einige der Männer die Votivkirche und treten in den Hungerstreik. Die Identitären treten hier erstmals in Erscheinung, wollen den Geflüchteten Angst machen und sind verwundert, als diese ihnen Essen und Tee anbieten. Die rechtsradikalen Kasperln ziehen ab. Immerhin damit haben die Refugees nachhaltigen Erfolg.

 

Menschenmeer

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Anführerinnen und Anführer des Marsches für Arbeit und Freiheit 1963. Der Prediger und Menschenrechtler Martin Luther King ist, mit der rechten Schulter nach hinten abgewinkelt, in der Mitte der ersten Reihe zu sehen – er geht vor einem Weißen. Center for Jewish History, NYC, gemeinfrei. Quelle: wikipedia.

Ähnlich verhält es sich 50 Jahre zuvor in den USA. Die BürgerInnenrechtsbewegung ist an ihrem Höhepunkt, gleichzeitig nimmt rassisch motivierte Gewalt zu. Christliche, islamische, laizistische Organisationen, linke NGO, Gewerkschaften kampagnisieren seit Jahren, in zahlreichen Städten werden sie von der Polizei wiederholt niedergeknüppelt.

Es geht nicht nur um das Wahlrecht für Schwarze: Es geht um ein würdiges Leben für alle US-BürgerInnen. Atomarer Schrecken, Schweinebucht, Vietnam haben den Amerikanischen Traum wohl zerstoben. Da geht ein neuer Traum um: Am 28. August 1963 findet in Washington der Marsch für Arbeit und Freiheit statt. 300.000 Menschen, weiß, farbig, Latin@s ziehen hier gemeinsam vor das Denkmal des Sklavenbefreiers Abraham Lincoln. Den Traum zeichnet der berühmte schwarze Pastor Martin Luther King: „I have a dream“, sagt er, „dass eines Tages in Alabama kleine schwarze Buben und kleine schwarze Mädchen kleine weiße Buben und kleine weiße Mädchen bei der Hand nehmen, als Schwestern und Brüder.“ Die US-Politik gibt dem Druck der Straße 1964 erstmals mit dem Civil Rights Act nach.

 

Lichtermeer

Es ist mal wieder Krieg: Jörg Haider fährt während der Balkankrise sein Anti-Ausländer-Volksbegehren, Franz Fuchs terrorisiert prominente AktivistInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen, Roma mit seinen Briefbomben, in Deutschland brennen Asylheime. In Wien formiert sich am 23. Jänner 1993 eine Mahnwache dagegen. 250.000 Menschen versammeln sich abends zum Lichtermeer, der größten Demo der Zweiten Republik. Kerzen, Feuerzeuge, Fackeln erleuchten den Heldenplatz. Es ist die erfolgreiche Geburtsstunde von SOS Mitmensch – und ein nicht zu unterschätzendes Zeichen für Menschen- und BürgerInnenrechte in Österreich.

Wenn Sie sich in diesem Geist sehen, bitten wir Sie, es mit Nazar, mit den Ärzten zu halten.

Es ist sicher nicht Ihre letzte Wahl, aber es ist eine wichtige Wahl. Danach ruft der Protest auf der Straße. Er kann, wie unsere Serie zeigte, wenigstens in Teilen Erfolg haben. Wenn eine Demo schon nichts zum Guten hin verändert, so bewahrt sie im zweitbesten Fall doch vor Verschlechterungen.

 

Dieser Artikel ist der letzte Teil einer kleinen Serie zu Demonstrationen. Lesen Sie hier die anderen Teile:

Teil 4: Konrad-Kartoffeln-Kapital zu Protesten von Bäuerinnen und Bauern.

Teil 3: See-Schweiz-Salz zu Steuerboykotten.

Teil 2: Gott-Grüne-Georgsband zur Friedensbewegung.

Teil 1: Paris-Prater-Parlament zu Frauenrechten.

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