Kein Herz für Arbeiter
Christian Baron liest der politischen Linken die Leviten – Sonntag ist Büchertag
Didier Eribons großartiges Buch „Rückkehr nach Reims“ über die sozioökonomische Zerrüttung der französischen ArbeiterInnenmilieus und ihre politischen Folgen habe ich an der Stelle bereits empfohlen, nun hat sich mit Christian Baron ein deutscher Marxist mit proletarischem Familienbackground gefunden, der auf Eribons Spuren wandelnd der politischen Linken in der BRD die Leviten liest. Das passiert in vielsagenden Unterkapiteln wie „Von der Proleten-Plörre zum linken Lifestyle“, „Der Nazi-Ork von Hellersdorf“ oder „Kokos-Tofu-Suppe im Schnellrestaurant“. Und viele Lektionen aus diesem Buch sollte auch die österreichische Linke schleunigst beherzigen.
In dem Buch „Proleten. Pöbel. Parasiten“ mit dem polemischen und etwas unscharf generalisierenden Untertitel „Warum die Linken die Arbeiter verachten“ beschreibt Baron sein eigenes Aufwachsen in einer ArbeiterInnenfamilie: Die Gewalttätigkeiten seines Vaters, die materielle Not, das Schicksal seiner krebskranken Mutter – und das große Glück des Zufalls (sowie engagierter Grundschullehrerinnen), das ihm schließlich den Weg zur Universität öffnet. Als Arbeiterkind und Linker kämpft er für eine Gesellschaft, in der diese Wege allen offen stehen und nicht vom Zufall abhängen, in welche familiären Verhältnisse Menschen hineingeboren werden. Keine immer einfache Sache in einem politischen Umfeld, das sich vielfach aus (klein-)bürgerlichen Schichten rekrutiert, subkulturelle Identitätspolitik und Szene-Codes pflegt und anstelle der kritischen Reflexion der eigenen Privilegien und einer daraus nötigerweise folgenden Ableitung eines gemeinsamen Kampfes eher zu bürgerlichen Standesdünkeln, zuweilen gesteigert zu einer regelrechten Verachtung gegenüber den Unterklassen, tendiert.
Wo die Linke die Orientierung an der sozialen Frage als Hebel zu gesellschaftlicher Veränderung aufgibt, sprießen die seltsamsten Blüten. An eben diesen übt Christian Baron heftige Kritik und lässt zugleich die Abgehängten, die Sprachlosen, die Verachteten selbst zu Wort kommen.
Mit bestimmter Kritik mag er mitunter über das Ziel hinausschießen, wie Claudia Wangerin in ihrer Rezension für die junge Welt feststellt, dazu kann ich am Anfang des Buches noch wenig sagen, außer der Feststellung, dass fortschrittliche Politik im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung selbstverständlich auch immer dem Schutz gesellschaftlicher Minderheiten und der besonders bedrängten Situation dieser Rechnung tragen muss.
Will die Linke aber langfristig wieder die Füße auf den Boden bekommen und in die Klassenkämpfe eingreifen, anstatt die politischen Verhältnisse aus feinen Salons oder „gated communities“ zu kommentieren, wird sie über ihr Verhältnis zu den „Verdammten dieser Erde“ grundlegend debattieren müssen. Dazu ist „Proleten. Pöbel. Parasiten“ allemal ein guter Anstoß.
Christian Baron
Proleten, Pöbel, Parasiten
Warum die Linken die Arbeiter verachten
Das Neue Berlin, Berlin 2016
288 Seiten
12,99 Euro
Das Buch wurde vorgestellt von Robert Krotzer.
Foto: Robert Krotzer (fb); Titelbild: Collage aus Cover (eulenspiegel.com)
Sonntag ist Büchertag
Bisher:
- „Kinder der Tage“ (Eduardo Galeano)
- „Familie Salzmann“ (Erich Hackl)
- „Deutsche Demokratische Rechnung. Eine Liebeserzählung“ (Dietmar Dath)
- Über Kurt Tucholsky
- „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ (Richard David Precht)
- „Der Aufstand des Gewissens“ (Jean Ziegler)
- „Superhenne Hanna“ (Felix Mitterer)
- „Die Diktatur des Kapitals“ (Hannes Hofbauer)
- „Die schützende Hand“ (Wolfgang Schorlau)
- „Hitler war kein Betriebsunfall“ (Emil Carlebach)
- „Heldenplatz“ (Thomas Bernhard)
- „Zwölfeläuten“ (Heinz R. Unger)
- „MARX“ – Graphic Novel (Corinne Maier, Anne Simon)
- „Gefährliche Bürger“ (Christoph Giesa und Liane Bednarz)
- „Ändere die Welt. Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ (Jean Ziegler)
- „Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee“ (Dietmar Dath & Barbara Kirchner)
- Die Viertel der Reichen (Louis Aragon)
- „Wie Italien an die Räuber fiel“ (Gerhard Feldbauer)
- „berlin. bleierne stadt“ (Jason Lutes)
- „Das war Österreich“ (Robert Menasse)
- „Narr“ von Schilddorfer & Weiss
- „Fußball. Eine Kulturgeschichte“ (Klaus Zeyringer)
- „Reisen in das Land der Kriege“ (Kurt Köpruner)
- „The magic Pen – Der Zauberstift“ (Kathrin Steinbacher)
- „Rückkehr nach Reims“ (Didier Eribon)
- ISLAMISCHER STAAT & Co. (Werner Ruf)
- „Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers (Stefan Zweig)
- Freud und das Politische (Moshe Zuckermann)
- „LONDON. Unterwegs in einer umkämpften Metropole“ (Peter Stäuber)
- „Der Tote im Bunker“ (Martin Polack)
- „Antonia war schon mal da“ (Patrick Wirbeleit)
- „Hinter den Barrikaden – Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg“ (Lower Class Magazine)
- „Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht“ (Peter Nowak)
- „Die Wut wächst“ (Oskar Lafontaine)
- „Postkapitalismus“ (Paul Mason)