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Sollen Europäer_innen Beamten vertrauen?

Paulo Pinto de Albuquerque, Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hält das für keine gute Idee und begründet in seinem Sondervotum, warum der EGMR in Zusammenhang mit Überwachung und Geheimdiensten mehr für die Wahrung unserer Grundrechte tun muss.

Von Roman Dietinger

Big Brother

Am 25. Mai 2021 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein Urteil zur massenhaften Überwachung von Kommunikationsdaten durch den britischen Geheimdienst GCHQ gesprochen. Die Überwachung der Kommunikation bleibt demnach weiterhin möglich, allerdings innerhalb rechtsstaatlicher Begrenzungen. 

Auf mehr als zweihundert Seiten hat der Gerichtshof in der Rechtssache „Big Brother Watch and Others v. the United Kingdom“ zum britischen Geheimdienstgesetz einstimmig entschieden, „dass die im Gesetz vorgesehene geheimdienstliche Massenüberwachung gegen Artikel 8 EMRK (Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) sowie Artikel 10 EMRK (Menschenrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung) verstößt; dies gilt auch für die Datenabschöpfungen bei privaten Diensteanbietern.“

Mit zwölf zu fünf Stimmen entschieden die Richter des EGMR allerdings auch, dass eine Rechtsverletzung im Informationsaustausch mit Geheimdiensten „befreundeter“ Staaten nicht zu sehen sei“.

Der portugiesische EGMR-Richter Paulo Pinto de Albuquerque meint aber, der EGMR habe trotzdem „mit dem vorliegenden Urteil gerade die Tore für einen elektronischen ‚Big Brother‘ in Europa geöffnet“

Unzulässig vage Formulierungen

Die Formulierungen des Gerichtshofs seien „unzulässig vage“ und würden „die bewusste Absicht des Gerichtshofs widerspiegeln, dem beklagten britischen Staat einen Ermessensspielraum bei der Umsetzung des Urteils einzuräumen“

Sie zeigten aber auch „das Zögern der Richter bei der Ausübung ihrer Rechtsprechungsfunktion“. Damit würden „sie nicht nur die Autorität des Gerichtshofs“ schwächen, sondern „auch die Wirkung des Urteils hier neue Standards zu setzen“ verwässern. 

Zudem hätte der Gerichtshof, „in Anbetracht des neuartigen Charakters der Rechtsfragen, um die es in der vorliegenden Rechtssache der Großen Kammer geht“, die Bedeutung „der grundlegenden im vorliegenden Urteil verwendeten Rechtsbegriffe schwarz auf weiß festlegen müssen“

Auch sei das methodische Vorgehen des Gerichtshofes „bedauerlich“. Er habe „auf der Grundlage begrenzter Informationen über die Funktionsweise dieser Regelungen zur Massenüberwachung“ entschieden. So habe ihm „offensichtlich das detaillierte Material, das erforderlich gewesen wäre, um eine vollständige strukturelle Analyse und Bewertung der Massenüberwachung im Vereinigten Königreich vorzunehmen“ gefehlt.

„Ja“ zur Massenüberwachung

Die vom Gerichtshof „wiederholt betonte äußerste Sensibilität des Urteilsgegenstandes“ habe nur dazu gedient, auf der Notwendigkeit der „Wirksamkeit“ und „Flexibilität“ des Systems der Massenüberwachung zu bestehen, nicht aber dazu, alle relevanten Beweise zu sammeln, die für ein faktenbasiertes Urteil des Gerichtshofs erforderlich gewesen wären“

Diese zeige, „dass die Straßburger Richter den Gerichtshof nicht als ein wirkliches (wahrhaftiges) Rechtsorgan betrachten, mit der Befugnis, die Verfahrensbeteiligten anzuweisen, ihm uneingeschränkten und bedingungslosen Zugang zu den für den Streitgegenstand relevanten Beweisen zu gewähren“

“Die Kommunikation des Einzelnen wird wie ein Besitz des Staates behandelt, eine Ware, die der Staat nach eigenem Ermessen mit anderen Parteien teilen kann, um „zu sehen, ob der Heuhaufen eine Nadel enthält” – Richter Paulo Pinto de Albuquerque

Der Gerichtshof habe einige „begründete Vermutungen über das mutmaßliche Ausmaß des Eingriffs in die Rechte von Personen in verschiedenen Phasen des Abhörprozesses“ angestellt, was letztlich dazu geführt habe, dass sich die Mehrheit „auf die Seite des übermäßigen Sammelns von Informationen“ geschlagen habe.  

Der Gerichtshof gehe „von der Unvermeidbarkeit der Massenüberwachung und mehr noch von der Unvermeidbarkeit einer pauschalen, nicht zielgerichteten, verdachtsunabhängigen Überwachung“ aus und sei von seiner ständigen Rechtsprechung abgewichen „nach der er   ‚keinen Grund für die Anwendung unterschiedlicher Grundsätze in Bezug auf die Zugänglichkeit und Klarheit der Vorschriften für die Überwachung einzelner Kommunikationsvorgänge einerseits und allgemeinerer Überwachungsprogramme andererseits‘ sah“

Drei fragwürdige Begründungen

Um die frühere Rechtsprechung aufzugeben habe der Gerichtshof drei Gründe angeführt, die „alle sachlich nicht stichhaltig“ seien: 

1) Der erklärte Zweck von Massenüberwachung sei in vielen Fällen, „die Kommunikation von Personen außerhalb des Hoheitsgebiets des Staates zu überwachen“. Dazu habe der Gerichtshof aber keine Beweise vorgelegt, sondern sogar „alle verfügbaren maßgeblichen Dokumente zur Massenüberwachung“, die eine andere Sprache sprechen würden, ignoriert. Die britische Regierung selbst habe eingeräumt, dass die Zahl der entsprechenden Abfragen von Kommunikationsdaten von Personen, die sich im Vereinigten Königreich aufhalten, bis zu mehreren Tausend pro Woche beträgt.

2) Die Mitgliedsstaaten des Europarats würden die Massenüberwachung zu anderen Zwecken als zur Verbrechensaufklärung einsetzen. Massenüberwachung könne auch „zum Zwecke der Sammlung ausländischer geheimdienstlicher Erkenntnisse verwendet werden, bei der es möglicherweise weder ein spezifisches Ziel noch eine identifizierbare Straftat gibt“. Daher sei sie „nicht durch die gleichen Standards wie die gezielte Überwachung geregelt (und sollte sie auch nicht sein)“, so der EGMR. 

Dies sei „ein weiteres unbewiesenes Argument des Gerichtshofs“, meint Paulo Pinto de Albuquerque. Nicht zielgerichtete Massenüberwachung sei „in dreiundzwanzig europäischen Staaten explizit oder implizit verboten“. Eine „wahllose Massenüberwachung der Kommunikation“ habe sich „als unwirksam für die Terrorismusprävention erwiesen und ist daher nicht nur gefährlich für den Schutz der Menschenrechte, sondern auch eine Verschwendung von Ressourcen“.

3) Im Falle der Überwachung durch starke Selektoren (personenbezogene Identifikatoren einer identifizierten oder identifizierbaren Zielperson, die eine Erfassung elektronischer Kommunikation an, von oder über die Zielperson ermöglichen) argumentiere der Gerichtshof, die Geräte der Zielpersonen würden nicht überwacht werden. Daher erfordere die Massenüberwachung nicht dieselben Garantien wie die klassische gezielte Überwachung. Richter de Albuquerque widerspricht dem und hält die automatische Erfassung und Verarbeitung mittels starker Selektoren für potenziell viel einschneidender in die Rechte nach Artikel 8.   

Aus dieser Argumentation folgere der Gerichtshof, dass innerstaatliches Recht „die Art der Straftaten, die zu einer Abhöranordnung führen können, und die Kategorien von Personen, deren Kommunikation abgehört werden kann“, nicht festlegen muss und dass „kein hinreichender Verdacht erforderlich“ sei, „um eine solche Abhöranordnung zu begründen“. Somit reiche „eine allgemeine verdachtsunabhängige Überwachungsanordnung aus, um eine Massenüberwachung auszulösen, sei es zum Zwecke der Aufdeckung und Untersuchung von Straftaten oder zu anderen Zwecken“.

Schlussfolgerungen

Richter de Albuquerque mahnt, dass „in einigen Ecken Europas […] eifrige Geheimdienste“ versucht sein werden, „die sehr laxe Art und Weise, mit welcher der Gerichtshof rechtliche Standards formuliert, auszunutzen, wobei unschuldige Menschen früher oder später den Preis dafür zahlen werden“

Das Zulassen der nicht zielgerichteten Massenüberwachung bedeute „einen grundlegenden Wandel in der Art und Weise, wie wir die Verbrechensverhütung, die Ermittlungen und die Sammlung geheimdienstlicher Erkenntnisse in Europa betrachten, weg von der Ausrichtung auf einen Verdächtigen, der identifiziert werden kann, hin zur Behandlung aller Menschen als potenzielle Verdächtige, deren Daten gespeichert, analysiert und charakterisiert werden müssen“. Eine Gesellschaft, „die auf solchen Grundlagen aufgebaut ist, ähnelt eher einem Polizeistaat als einer demokratischen Gesellschaft. Es wäre das Gegenteil von dem, was die Gründerväter für Europa wollten, als sie 1950 die Menschenrechtskonvention unterzeichneten.“

Der gesamte, sehr lange Text des Sondervotums kann auf netzpolitik.org in deutscher Sprache nachgelesen werden.


Titelbild: Claudio Schwarz auf Unsplash

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