Hacker aller Länder, vereinigt euch!
Dass man in technologieverrückten Zeiten noch gute Science-Fiction Romane schreiben kann, beweist die junge argentinische Autorin Pola Oloixarac mit Kryptozän – Sonntag ist Büchertag
Von Susanne Lang / kritisch-lesen.de
Wie begreifen wir eine Welt, in der die Grenzen zwischen Mensch und Maschine zunehmend schwer auszumachen sind? Dieser Frage geht die argentinische Autorin Pola Oloixarac in ihrem Roman „Kryptozän“ nach. Das Kryptozän, so die dem Roman zugrunde liegende Idee, ist die sich dem Anthropozän (eine Bezeichnung des aktuellen Erdzeitalters, über die gerade diskutiert wird) anschließende Epoche, in dem nicht mehr der menschliche Einfluss auf die Entwicklung des Planeten Erde zentral ist, sondern etwas Nicht-Fassbares, im Verborgen bleibendes, kryptisches: ein Mensch-Maschine-Hybrid.
Kryptozän ist Pola Oloixaracs zweiter Roman. Die 1977 geborene Autorin wurde mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet und legt auch mit diesem Roman ein literarisch ausgereiftes Werk vor: verdichtet, mit vielen angedeuteten Querverweisen und Referenzen von der griechischen Antike, über die Botanik des 19. Jahrhunderts bis in die Sphären der Computerwelt und der Genetik. Wer in keiner der Welten zu Hause ist, sollte viel Zeit und Wikipedia bereithalten, um dem Erzählfluss folgen zu können.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung trifft einen Nerv der Zeit. In den letzten drei Monaten des Jahres 2016 gab es gleich drei Konferenzen, in denen Linke versuchten, die Themen Mensch und Maschine, Digitalisierung und Kapitalismus, Widerstand und das Verhältnis der Linken zu den Internet-Technologien auszuloten. Alle drei Konferenzen nehmen verschiedene Aspekte in den Fokus, die sich interessanterweise alle in dem Roman von Pola Oloixarac wiederfinden lassen und von ihr in einem Science-Fiction-Szenario bearbeitet werden.
Eine der erwähnten Konferenzen, der BUKO-Kongress zum Thema Technologie, fand am ersten Oktoberwochenende 2016 in Köln statt. Unter dem Titel „Leben ist kein Algorithmus ‑ Solidarische Perspektiven gegen den technologischen Zugriff“ wurde vor allem auf den gewaltsamen und mörderischen Aspekt der neuen Technologie hingewiesen: Überwachung, Cyberwar, Drohnenkriege. In der Suche nach Gegenstrategien, die sich in autonomer Tradition auf Verweigerung konzentrieren, sieht es dann jedoch schnell dünn aus, was angesichts der Übermacht der sich neu formierenden Herrschaftsinteressen nachvollziehbar ist.
Eine viel grundsätzlichere Perspektive nahm am letzten Novemberwochenende 2016 der in Hamburg stattfindende Kongress des kommunistischen »…ums Ganze!«-Bündnisses unter dem Titel „reproduce(future)“ ein. Wie verändert Technologie die einzelnen Gesellschaftsbereiche, wie beispielsweise die Produktion, Arbeitskämpfe und Reproduktion? Was ist – ganz grundsätzlich – ein linkes Verhältnis zu Technologie, zwischen kritischer Distanz und Aneignung? Nach konkreten Gegenstrategien wurde auf der Konferenz nicht gesucht, vielmehr ging es um eine grundsätzliche Auslotung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter der Bedingung der Digitalisierung.
In Berlin fand schließlich am ersten Dezemberwochenende eine von der Rosa Luxemburg Stiftung organisierte Konferenz statt: „Unboxing Algorithmen, Daten und Demokratie“ war der Titel und auch das Programm. Im Zentrum stand die Frage, wie die zunehmende Rolle von maschinell erschaffenen Algorithmen und eine auf Daten basierende Gesellschaft mit einer Demokratie vereinbar sind. Welche Regulierung wird notwendig, welche konkreten Handlungsansätze denkbar. Ganz im Gegensatz zu der Hamburger Perspektive geht es hier nicht um das Richtige, das man tun müsste, wenn man die Macht dazu hätte, sondern um das Mögliche, was man jetzt tun könnte, um im Strom der Entwicklungen noch etwa mitzugestalten und zu retten, was an der Demokratie zu retten ist.
Alle drei Perspektiven – Verweigerung als alltägliche Widerstandspraxis; die Suche nach dem Richtigen, was zu tun ist; eine konkrete Gestaltung der aktuellen Situation, um zumindest eine Form der Demokratie zu erhalten – führen in „Kryptozän“ zu ein und demselben Ergebnis: Der Übernahme der Welt durch ein von Menschen nicht mehr kontrollierbares Maschine-Mensch-Wesen. Es scheint, als wäre der Lauf der Welt schon längst unaufhaltbar – zumindest für Menschenhand.
Die Vermessung der Zukunft
Der 189 Seiten lange Roman besteht aus drei miteinander verwobenen Teilen, die jeweils in einer Zeitebene spielen. Die erste Zeitebene ab dem Jahr 1882 berichtet von den Forschungsreisen des Botanikers Niklas Brunn. Gemeinsam mit Orchideenjägern und Insektensammlern bereist er den brasilianischen Urwald und erlebt dort einige phantastische Abenteuer, die sich vor allem um wundersame Pflanzen und wilde Sexorgien ranken. Im Mittelpunkt von Niklas Interesse stehen genau die Lebensformen, die weder richtige Pflanzen noch Insekten sind, weder richtig lebendig noch tot erscheinen und ihre Spezies ‑ meistens durch eine Art von Sex mit in Hängematten liegenden komatösen Frauen ‑ verändern können. Was anfänglich noch wie eine Passion erscheint, entwickelt sich im Laufe der Zeit zur Obsession und so verliert sich Niklas in seinen Experimenten und in dem Versuch, sich selbst darin aufzulösen.
Die utopische Weiterentwicklung von Niklas ist Piera, eine junge ambitionierte Biologin aus dem Jahr 2024. Pola Oloixarac rahmt mit den beiden Figuren die technische Entwicklung der Welt, die heute dem Menschen so gefährlich zu werden scheint. Beide sind konsequent zu Ende gedachtes Resultat der Aufklärung und des damit geborenen Forscherwillens, die Welt um jeden Preis zu vermessen und zu verändern. Piera ist darauf spezialisiert, DNA-Proben aus der Luft zu filtern und nach Bekanntem oder Unbekanntem zu durchsuchen. Bionose – die Bio-Nase – ist eine der dystopischen Erfindungen des Romans, die der Kartierung und damit einhergehenden Überwachung der Menschen dient. Sie werden im Jahr 2024 unterhalb von Überwachungskameras montiert und haben die Form einer kleinen Nase. Sie ergänzen die Daten der Kameras mit Proben aus der Luft. Die Schwierigkeit im Jahr 2024 ist allerdings immer noch, diese richtig zuzuordnen und zu bewerten.
Nicht alle Menschen beugen sich dieser Totalüberwachung. Es gibt den „Widerstand“, junge Frauen, die Sand ins Getriebe werfen wollen. Sie übermalen ihre Gesichter, um von den Überwachungskameras nicht vermessen werden zu können, sie zünden Autos an, um Zeichen zu setzen. In „Kryptozän“ sind sie leider zu völliger Bedeutungslosigkeit verdammt: die Technologie ist ihnen voraus, während die Aktivistinnen noch gegen Überwachungskameras kämpfen, ist der gesamte Genpool der Bevölkerung schon erfasst und die Überwachung durch die Bio-Nasen längst Praxis.
Auch die Biologin Piera hat ein widerständiges Verhältnis zur Totalüberwachung. Aber sie löst diesen Konflikt individuell: ihr eigenes Bedürfnis nach Privatheit, das sich vor allem darin erschöpft, unbeobachtet Pornos zu schauen, schützt sie über Tor, eine Verschlüsselungstechnologie, die es auch im Zeitalter der Quantencomputer noch geben soll. Die wissensdurstige Piera ist aber vor allem durch die gleiche Obsession getrieben, der auch Niklas 150 Jahre zuvor verfallen war: Wie weit reicht die menschliche Macht, die Natur zu durchdringen und in der Konsequenz zu gestalten? Sind die Menschen Herrscher oder Beherrschte?
So landet Piera in dem neuen Forschungsunternehmen STROMATOLITHON. Das STROMATOLITHON ist ein Start-up mit universitärer Anbindung aus dem Bereich Bio-Computertechnologie. Mit Hilfe von Quantencomputern mit schier unvorstellbarer Rechenkapazität sollen sämtliche inzwischen angelegte DNA-Datenbanken von sämtlichen Menschen Lateinamerikas mit den Überwachungsdaten aus Kameras und Bionosen in Zusammenhang gebracht werden. Was genau der gesuchte Zusammenhang ist, bleibt im vagen, vermutlich sollen das die mächtigen Algorithmen selbst definieren.
Radikale Demokratisierung oder Unterwerfung?
Aber alles kommt anders. Denn Piera trifft auf Cassio. Cassio ist ein argentinischer Hacker, der in der zweiten Zeitebene eingeführt wird, die 1983, im Jahr seiner Geburt, beginnt. Cassio ist nicht nur ein einsamer Eigenbrödler, sondern auch besonders talentiert im Programmieren, seine Computerviren sind legendär. Auch Cassio ist von seinem Forschergeist getrieben und sucht permanent die technische Herausforderung. Kein Wunder, dass er im Alter von 41 Jahren das STROMATOLITHON mit aufbaut.
Piera und Cassio teilen die Obsession, mit Hilfe von Technik die Natur verstehen, durchleuchten und beherrschen zu wollen. Ihre Liaison, um das Unmögliche auszuprobieren, scheint unausweichlich. Sie entwickeln eine Kreuzung aus Computerviren und biologischen Viren, programmiert von Cassio. Das Virus zieht am Ende des Romans aus, sich zu vervielfältigen und die Daten der Welt zu erbeuten und gleichzeitig allen Infizierten Zugang zum eigenen Datenreservoir zu gewähren. Diese Unterwerfung erscheint zuerst als eine radikale Demokratisierung der Daten, aber genau weiß das nur das Virus selbst, dessen Plan dem Lesenden verborgen bleibt.
Cassio ist der Hauptheld und Hoffnungsträger des Kryptozäns. Zwanzig Jahre seines Lebens verbringt er in Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Bedingungen und sucht – in typischer Hackerart – nach dem Fix, nach der technischen Lösung des Problems. Er nimmt dabei leider nicht die real existierenden gesellschaftlichen Bedingungen zum Ausgangspunkt seines Handelns, sondern theoretische Überlegungen einer richtigen Welt. Dass er dabei über sein eigenes Denken – so genial es auch sein mag – nicht hinauswachsen kann und notwendigerweise zum Erfüllungsgehilfen der neuen kryptischen Macht wird, überrascht nicht. Mit Hilfe eines von ihm angelegten Botnetzes kann er zwar für eine ungehinderte Verbreitung seines Virus sorgen. Aber der Virus ist am Ende selbstlernend und so verliert auch Cassio die Kontrolle über dessen Ausrichtung: Wie einst der Zauberlehrling, der seine Kräfte über- und die Konsequenzen seines Handelns unterschätzt, erschafft er mit dem Versuch, die Überwachungsdaten zu demokratisieren, ein selbstlernendes, selbststeuerndes, perfektes System.
Der Roman Oloixaracs ist schwer verdaulich und hinterlässt einen apokalyptisch-typischen fahlen Nachgeschmack. Es scheint, dass all die technischen Details und beschleunigten Entwicklungen den Blick auf das Wesentliche zu sehr verstellen, denn die Frage nach der Formierung der menschlichen Interessen, die über die individuellen Interessen hinausgehen, fehlt. Privatheit, sexuelle Begierde und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sind sicherlich wichtige Motive für das Handeln von Menschen. Auch das persönliche Erfahren von Totalüberwachung und Repression führt bei vielen zu Verweigerung und Dissidenz. Doch am Ende des Tages sind diese individuellen Entwicklungen nur als Massenphänomen wirksam, müssen dann aber über die individuellen Ängste, Nöte und Sorgen hinaus wachsen.
„Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Welt nur deswegen nicht zusammenbricht, weil es zu viele gute Menschen gibt. Die Nichtzerstörung aller Systeme lässt sich nur erklären, wenn man von einer Mehrheit von guten Menschen ausgeht, die sich um das Wohlergehen aller sorgen.“ (Cassio denkt über die Welt nach, S. 96)
Die Geschichte der Menschheit lehrt uns, dass es gerade und nur die Menschen sind, die es schaffen können, gemeinsame, verallgemeinerbare Interessen zu entwickeln, die über das Individuum hinausgehen und eine gerechte Gesellschaft zum Ausgangspunkt haben. Darum stellt sich die Frage an Oloixarac, an Hamburg, Köln und Berlin: Wo finden die Klassenkämpfe heute und morgen statt?
Kryptozän
Aus dem argentinischen Spanisch von Timo Berger
Verlag Klaus Wagenbach
ISBN 978-3-8031-3280-2
Der Beitrag erschien zuerst am 3. Jänner bei unserem Kooperationspartner kritisch-lesen.de unter der Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz.
Buchcover: Verlag Klaus Wagenbach; Titelbild: pixabay.com (public domain)
Sonntag ist Büchertag
Bisher:
- „Kinder der Tage“ (Eduardo Galeano)
- „Familie Salzmann“ (Erich Hackl)
- „Deutsche Demokratische Rechnung. Eine Liebeserzählung“ (Dietmar Dath)
- Über Kurt Tucholsky
- „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ (Richard David Precht)
- „Der Aufstand des Gewissens“ (Jean Ziegler)
- „Superhenne Hanna“ (Felix Mitterer)
- „Die Diktatur des Kapitals“ (Hannes Hofbauer)
- „Die schützende Hand“ (Wolfgang Schorlau)
- „Hitler war kein Betriebsunfall“ (Emil Carlebach)
- „Heldenplatz“ (Thomas Bernhard)
- „Zwölfeläuten“ (Heinz R. Unger)
- „MARX“ – Graphic Novel (Corinne Maier, Anne Simon)
- „Gefährliche Bürger“ (Christoph Giesa und Liane Bednarz)
- „Ändere die Welt. Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ (Jean Ziegler)
- „Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee“ (Dietmar Dath & Barbara Kirchner)
- Die Viertel der Reichen (Louis Aragon)
- „Wie Italien an die Räuber fiel“ (Gerhard Feldbauer)
- „berlin. bleierne stadt“ (Jason Lutes)
- „Das war Österreich“ (Robert Menasse)
- „Narr“ von Schilddorfer & Weiss
- „Fußball. Eine Kulturgeschichte“ (Klaus Zeyringer)
- „Reisen in das Land der Kriege“ (Kurt Köpruner)
- „The magic Pen – Der Zauberstift“ (Kathrin Steinbacher)
- „Rückkehr nach Reims“ (Didier Eribon)
- ISLAMISCHER STAAT & Co. (Werner Ruf)
- „Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers (Stefan Zweig)
- Freud und das Politische (Moshe Zuckermann)
- „LONDON. Unterwegs in einer umkämpften Metropole“ (Peter Stäuber)
- „Der Tote im Bunker“ (Martin Polack)
- „Antonia war schon mal da“ (Patrick Wirbeleit)
- „Hinter den Barrikaden – Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg“ (Lower Class Magazine)
- „Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht“ (Peter Nowak)
- „Die Wut wächst“ (Oskar Lafontaine)
- „Postkapitalismus“ (Paul Mason)
- Proleten, Pöbel, Parasiten (Christian Baron)
- „Jenseits von 1984″ (Sandro Gaycken)
- „Erinnerungen aus dem Widerstand“ (Margarete Schütte-Lihotzky)
- CETA – Lesen und verstehen. (Analyse des EU-Kanada-Freihandelsabkommens)
- Die globale Überwachung (Glenn Greenwald)
- „Die Wörter fliegen“ (Jutta Treiber)
- „erfasst, verfolgt, vernichtet“ (Ausstellungskatalog)
- „Verwirrung der Gefühle“ (Stefan Zweig)
- „Kalendergeschichten“ (Bertolt Brecht)